Norderstedt. Die Holzbildhauerin Zoë und Kunstgießer Oliver legten einen Zwischenstopp in der Stadt ein – ihr nächstes Ziel ist Husum.

Zoë wird von ihrer Familie auf das Ortsschild ihrer Heimatstadt getragen. Oben auf der Ortstafel wirft sie einen letzten Blick auf Melle bei Osnabrück, springt herunter und läuft in die Fremde. Mit diesem Ritual begann vor einem Jahr und acht Monaten die Wanderschaft der 29-Jährigen. Ihren Nachnamen hat sie gleich mit abgelegt, denn während den Wanderjahren seien alle gleich, da solle kein Nachname, der möglicherweise nach einem besseren Stand klingt, für eine Bevorzugung sorgen.

Seitdem ist die „fremde Holzbildhauerin“ der Reisevereinigung FBS viel gereist und steht mit Oliver auf dem Rathausplatz in Norderstedt. Die beiden tragen Kluft, eine traditionelle Zunftkleidung, dazu gehören ein Hemd mit grauem Band und unterschiedlichen Symbolen. Das Band steht für die Reisevereinigung, das Symbol für den Handwerksberuf. Die sogenannte Ehrbarkeit ist etwas Heiliges, anfassen ist tabu. Ein Geselle würde auch um seine Ehrbarkeit kämpfen. Ein Hut und ein kunstvoller Wanderstock gehören auch zur Kluft.

Oliver ist 28 Jahre alt, fremder Kunstgießer und bei derselben Reisevereinigung. Kunstgießer stellen Figuren wie beispielsweise die Regentrude her. Oliver ist der erste Kunstgießer auf Wanderschaft seit hundert Jahren.

Die beiden Gesellen haben sich über die gemeinsame Reisevereinigung kennengelernt und reisen seither immer mal wieder zusammen. „Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, ist immer jemand da, mit dem man sich über das Erlebte austauschen kann. Wenn ich alleine bin, gehe ich ganz anders auf Menschen zu und kann mehr Eindrücke sammeln“, wägt Zoë die beiden Arten zu reisen ab.

Bis vor 150 Jahren war die Walz in manchen Handwerksberufen noch verpflichtend oder zumindest Voraussetzung für die Meisterprüfung. Mittlerweile wurde die Wanderpflicht vollständig aufgehoben. „Wer es freiwillig macht, handelt aber auch nach den vorgegeben Spielregeln“, sagt Oliver. Die Spielregeln haben sich in den vergangenen 150 Jahren nicht verändert: Man muss zwischen 18 und 30 Jahren alt sein, schuldenfrei, kinderlos und unverheiratet. Vorstrafen sollte der Geselle auch keine haben. Über allem stehe „zünftiges und ehrbares“ Verhalten, sodass auch der nächste Wandergeselle ebenfalls willkommen ist. Denn für Fortbewegung und Unterkunft darf kein Geld ausgegeben werden. Wenn ein reisender Handwerker einen schlechten Eindruck hinterlässt, wirkt sich das schlecht auf alle nachfolgenden Wanderer aus. Um das zu verhindern, wird man in den ersten drei Monaten von einem Altgesellen begleitet, der für seinen Junggesellen die Verantwortung übernimmt. „Während dieser Zeit kann der Altgeselle entscheiden, dass es nicht passt, oder der Geselle kann die Walz abbrechen“, sagt Oliver. Danach geht das nicht mehr.

Im Winter haben sie auch in Tiefgaragen geschlafen

Nicht immer finden reisende Handwerker eine Unterkunft. „Im Sommer schläft man gerne draußen auf Wiesen oder an Flussufern, im Winter mussten wir auch schon in Tiefgargen oder Sparkassen übernachten“, sagt der 28-Jährige. Das seien die unangenehmen Seiten der Wanderschaft. Mal werde eine Woche nicht geduscht, mal finde man keine Mitfahrgelegenheit. Doch wenn der Punkt komme, an dem man aufgeben möchte, passiere meist etwas Positives.

Handys dürfen nicht auf Wanderschaft mitgenommen werden. „Termine werden deshalb ganz, ganz langfristig geplant“, betont Zoë. Da Versprechen unter reisenden Handwerkern sehr viel zählen, haben Oliver und Zoë noch keine Verabredung ausfallen lassen.

Die Motivation für so eine lange Reise mit offenem Ausgang sei eindeutig Abenteuerlust, Fernweh und Freiheitsdrang. Wenn Wandergesellen darüber sprechen, leuchten ihre Augen. Und sein Handwerk lerne man so auch am besten. „Jeder Meister kann seine spezielle Arbeitsweise weitergeben“, hat Oliver während seiner Reise gelernt. Er hat viel von Europa gesehen, aber hauptsächlich im deutschsprachigen Raum gearbeitet. Zoë hat die vergangenen zwei Monate in Dänemark verbracht und dort einen viel entspannteren Arbeitsstill kennengelernt. Ihr Reise-Highlight erlebte sie aber bei der Augsburger Puppenkiste, dort konnte sie Bühnendekoration anfertigen. Übrigens: Wer auf Walz ist, muss um seinen Heimatort und andere Lebensmittelpunkte eine Bannmeile von bis zu 50 Kilometern beachten.

Für die beiden Wandergesellen geht es zum Ende des Norderstedt-Besuchs ins Rathaus, um sich den Siegel der Stadt ins Wanderbuch eintragen zu lassen, mit dem die Reise dokumentiert wird. Anschließend geht es weiter nach Husum, um einen Freund zu besuchen. Der Zeitplan der Handwerker ist voll – obwohl Gesellen auf der Walz eigentlich alle Zeit der Welt haben sollten. „Ein Jahr auf Wanderschaft fühlt sich an wie drei, vier normale Lebensjahre“, schwärmt Zoë. „Es passiert jeden Tag etwas Neues, ein aufregender Strom reißt einen mit“, formuliert es Oliver. Die beiden sind sich einig, dass sie ihre Reise nicht schon nach den vorgeschriebenen drei Jahren und einem Tag beenden werden. Und damit sind sie nicht alleine: „Es geht kaum einer pünktlich nach Hause“, sagt Oliver.