Hamburg. Anwohner in Ahrensburg, Großhansdorf und Reinfeld nach Festnahmen geschockt. Hamburger Ermittler fürchteten großen Anschlag.

Elf arabische Namen, gedruckt auf weiße Plastikstreifen und verstreut auf einen Briefkasten geklebt. Es sind Namen von syrischen Männern, die in einer Ahrensburger Wohnung Schutz vor Krieg und Terror gefunden haben. Zumindest dachten die Nachbarn der Wohngemeinschaft mitten im Zentrum der Schlossstadt dies. Nun stehen sie fassungslos vor dem Wohnhaus. Denn einer der Bewohner, der 26-jährige Mohamed A. soll ein Terrorist sein, geschickt von der Gruppe „Islamischer Staat“ (IS) – um zu töten. Auch in Großhansdorf und Reinfeld wurden am Dienstag zwei Männer festgenommen.

„Das ist erschreckend“, sagt Ahrensburgs Bürgermeister Michael Sarach. Er spricht von einem Vorzeigeflüchtling, der freundlich und unauffällig war. „Wir haben 400 Flüchtlinge in der Stadt untergebracht – dass einer offenbar mit anderen Absichten gekommen ist, ist schlimm.“ Der Verwaltungschef möchte sich mit dem „Freundeskreis für Flüchtlinge“ zusammensetzen. Der Ahrensburger Verein betreut neben zahlreichen anderen Flüchtlingen auch die Bewohner der betroffenen Wohngemeinschaft. Die Stimmung in Ahrensburg gegenüber den Flüchtlingen war gut. Nun soll sie nicht kippen, nachdem Mohamed A. die Schutzbedürftigen als Tarnung missbrauchte.

Der Zugriff erfolgte am Dienstag vor der Dämmerung

In einer konzertierten Aktion griffen die Ermittler von Generalbundesanwalt und Bundeskriminalamt mit Spezialkräften weit vor 4 Uhr am Dienstagmorgen zu. Einige Zeugen gehen zunächst von einer Razzia in dem mongolischen Restaurant unter der Wohngemeinschaft aus. Auch Patricia Märten beobachtete die Bundespolizisten am frühen Dienstagmorgen sehr irritiert. Sie ist Lehrerin und unterrichtet Flüchtlinge in Ahrensburg. „Ich habe die Polizisten gefragt, ob es sich um eine Übung handelt?“, sagt Märten, die auch die Beamten fragt, ob sie sich Sorgen machen müsse? Laut Märten habe der Polizist erwidert, dass man sich schon Sorgen machen müsse. Das seien jetzt unsere Mitbewohner, soll der Beamte gesagt haben. Eine Aussage, über die die Lehrerin empört ist.

Am Dienstagnachmittag versuchen die Anwohner noch, das Geschehene überhaupt einzuordnen. Gerda Traulsen, die an dem Haus vorbeikommt und von dem Einsatz erfährt, sagt: „Ich finde das traurig. Die Leute, die es wirklich nötig haben herzukommen, die leiden jetzt unter diesen Verrückten.“

In Reinfeld erfolgte der Zugriff in einem alten Backsteinhaus, in dem elf männliche Flüchtlinge untergebracht sind. Darin wohnte der 17 Jahre alte syrische Staatsangehörige Mahir Al-H. Er gilt als Hauptverdächtiger. „Die Person lebte bei uns offenbar unter falschem Namen und hat sich älter gemacht. Ich wusste schon seit Längerem, dass es bei uns einen Zugriff geben wird. Aber nicht, wann und wo“, sagt Bürgermeister Heiko Gerstmann. Als Gerstmann um 7.30 Uhr an der Flüchtlingsunterkunft eintraf, war der Einsatz bereits seit Stunden vorüber, aber „es war immer noch alles voller Polizei“. Seine Sorge ist nun, dass die Vorfälle instrumentalisiert und auf alle Flüchtlinge verallgemeinert werden könnten. „Ich habe vor Ort auch mit einigen der Flüchtlinge gesprochen, die mit dem Verdächtigen zusammen­wohnten. Sie sind froh, dass die Gefahr gebannt ist“, so Gerstmann. Auch Albrech­t Werner vom Verein „Asyl in Reinfeld“ wurde von der Nachricht des Einsatzes überrascht: „Es ist uns zu keinem Zeitpunkt aufgefallen, dass jemand der Flüchtlinge etwas mit dem IS zu tun haben könnte“, sagt er.

Nun steht die „Karpfenstadt“ im Licht der internationalen Öffentlichkeit. Das durchsuchte Haus liegt an einer Straßenecke. Ein schwarzer Volkswagen-Kombi mit einem Kennzeichen aus Neukirchen biegt in den Weg ein, fährt langsam am Haus vorbei. In dem Wagen sitzen drei schwarz gekleidete Personen mit Sonnenbrillen, die interessiert das alte Backsteinhaus mustern. Auf der Heckscheibe des Wagens klebt ein Aufkleber der NPD. Der Partei spielt die Festnahme in die Karten.

Auch Janhinnerk Voß, Bürgermeister in Großhansdorf, befürchtet, die Kritik von Flüchtlingsgegnern könnte jetzt lauter werden. Denn in der 10.000-Einwohner-Gemeinde ist eine Flüchtlingsunterkunft von einer Spezialeinheit der Polizei gestürmt worden. Ein zerborstenes Fenster deutet am Vormittag auf den Einsatz hin. „Die Polizei kam morgens um 5 Uhr, teilweise in Zivil, teilweise in Uniform, mit Taschenlampen und Polizeihund“, sagt ein Anwohner, der mit Blick auf die Unterkunft in unmittel­barer Nachbarschaft wohnt.

Bis zum frühen Nachmittag wirkte die Unterkunft verlassen. Erst dann trauten sich die Anwohner zurück. Die drei Verdächtigen sind da bereits in Karlsruhe, mit Hubschraubern über den Hamburger Flughafen ausgeflogen.

Ermittler aus Hamburg hielten die Verdächtigen im Blick

Die Sicherheitsbehörden hatten bereits seit Monaten auf diesen Tag hingearbeitet, die finale Einsatzbesprechung aller Kräfte fand in Hamburg statt. Offenbar hatten die Terrorverdächtigen auch Verbindungen in die Hansestadt Hamburg, sie sollen mehrfach in Hamburg unterwegs gewesen sein. Um potenzielle Anschlagsorte auszukundschaften?

Bereits im Frühjahr wurden nach Abendblatt-Informationen die Ermittler des Hamburger Landeskriminalamts (LKA) von den Bundesbehörden eingeschaltet, beteiligten sich an der Überwachung der drei Syrer. Sie wurden beschattet, ihre Telekommunikation überwacht. Beim Bundeskriminalamt und bei den Landesämtern führten die Polizisten ihre Ermittlungen. Die Männer hätten ein „auffälliges Kommunikationsverhalten“ gezeigt, heißt es von Ermittlern. So sollen sie ihre SIM-Karten häufig getauscht und überwiegend verschlüsselt miteinander telefoniert haben. „Sie wechselten die SIM-Karten wie Socken“, sagt ein Kriminalbeamter zugespitzt. Der IS hatte sie mit ausreichend Geld, offenbar einem vierstelligen Betrag an US-Dollar, versorgt, von dem sie in Norddeutschland zehren konnten.

Kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft im Juni dieses Jahres spitzte sich die Lage offenbar zu. Die Kriminalbeamten trieb die Sorge um, dass die Männer einen Anschlag auf ein sportliches Massenereignis planen und das Fanfest auf dem Heiligengeistfeld ins Visier genommen haben könnten. Schließlich hatten schon die Attentäter von Paris ein Fußball-Länderspiel als Bühne für einen Terroranschlag missbraucht, vor der Europameisterschaft verdichteten sich Hinweise mehrerer Geheimdienste über möglicherweise geplante Anschläge.

Die Sorge im Fall der drei IS-Verdächtigen aus Schleswig-Holstein war so groß, dass in Hamburg zusätzliche Ermittler an der Seite des BKA eingesetzt wurden, um etwa U-Bahn-Fahrten der drei Männer genau zu verfolgen. Es war dabei unklar, ob die Verdächtigen wirklich einen Anschlag in Hamburg planten oder möglicherweise Aktionen in anderen Städten – oder gar im EM-Gastgeberland Frankreich – im Sinne hatten. Hinweise darauf, dass die „Schläferzelle“ im Umland ein konkretes Ziel für einen Anschlag gefunden hat, ergaben sich aber bis zur Festnahme nicht mehr.

Innensenator Andy Grote (SPD) betonte auch im Wissen um die drei Syrer zuletzt, dass es in Hamburg weiterhin eine „abstrakte Gefahr“ von Terror­anschlägen gebe. Es gebe aber weiterhin keinen direkten Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und dem islamistischen Terrorismus, so der Innensenator in der vorigen Woche im Gespräch mit dem Abendblatt. „Es ist kein Bundesland, es ist kein Staat davor gefeit“, sagte der schleswig-holsteinische Innenminister Stefan Studt (SPD). Terrorexperten gehen davon aus, dass der IS nie auf die Flüchtlingsströme angewiesen war, um Terroristen nach Europa zu schleusen – sie aber bewusst nutzt, um Verunsicherung und Misstrauen zu säen.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Fall der festgenommenen IS-Verdächtigen auch in Norddeutschland gerichtlich aufgearbeitet werden. Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern haben bereits vor vier Jahren einen gemeinsamen Staatsschutzsenat, der im Falle von Mitgliedschaften in aus- und inländischen Terrororganisationen Recht spricht. Zuletzt wurde im Juli ein 27-Jähriger aus Bremen zu drei Jahren Haft verurteilt, der zuvor für den Kampf im islamistischen Dschihad ausgereist war.

Der Hamburger Justizsenator Till Steffen (Grüne) hat den Aufbau eines zweiten, mit fünf Richtern besetzten Staatsschutzsenats am Hanseatischen Oberlandesgericht angekündigt, der vermutlich Anfang 2017 seine Arbeit aufnehmen wird. Es seien noch mehrere Terrorprozesse im Norden zu erwarten.