Kulturwandel in Sparkassen und bei der Otto Group: Der Krawattenzwang fällt. Und die Chefs bieten ihren Mitarbeitern spontan das Du an.

Bislang waren in einer sich immer schneller verändernden Welt einige Dinge unumstößlich klar: Wenn man die Schalterhalle einer Sparkasse betritt, begegnet man Mitarbeitern in Anzug und Krawatte oder der weiblichen Variante der Business-Uniform. Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen werden mit Sie angesprochen – und im Sterne-Lokal an der Elbchaussee ist dem Personal das Tragen von Bärten nicht erlaubt. In vielen Hamburger Unternehmen, selbst in eher zugeknöpften Branchen, hält unübersehbar eine neue Lässigkeit Einzug.

Haspa Business Casual etwa nennt sich die neue Kleiderordnung der Hamburger Sparkasse, deren Einführung im Mai über die Stadtgrenzen hinaus für Beachtung sorgte. Dass auch Vorstandssprecher Harald Vogelsang sich bei offiziellen Terminen ohne – rote – Krawatte zeigen würde, schien im ersten Moment als Tabu-, zumindest aber als Stilbruch. Inzwischen ist es gelebte Normalität.

Der Vorstandsvorsitzende der Otto Group, Hans-Otto Schrader - ganz ohne Schlips Foto: Sven Hoppe/dpa
Der Vorstandsvorsitzende der Otto Group, Hans-Otto Schrader - ganz ohne Schlips Foto: Sven Hoppe/dpa © picture alliance / dpa | Sven Hoppe

Den Otto-Chef dürfen die Mitarbeiter Hos nennen

Ähnlich verduzt waren die Reaktionen auf die Ansage des Chefs der Otto Group, Hans-Otto Schrader, nur wenige Wochen zuvor, in dem weltweit agierenden Konzern solle sich fortan geduzt werden. Er selbst, teilte der Unternehmensboss mit, könne übrigens Hos genannt werden.

Selbst im traditionsreichen Hotel Louis C. Jacob lockern sich die Umgangsformen. Mitarbeiter dürfen sich jetzt offiziell mit dem sogenannten Hamburger Sie, also Vorname und Sie, ansprechen. Und Direktor Jost Deitmar, personifizierter Ausdruck Hamburger Gediegenheit, kam gerade mit Frisuren-Update und – neuerdings erlaubtem – Kinnbart aus dem Urlaub.

Leitartikel: Der Knoten der Krawatte ist geplatzt

So lässig die Wandlung der Etikette zunächst wirkt, dahinter steckt natürlich auch Kalkül. „Die Unternehmen wollen zeigen, dass sie weltoffen und modern sind“, sagt die Hamburger Stil- und Imageberaterin Stefanie Diller (www.Diller-yourself).

Junge Leute wünschen sich mehr Spaß in der Arbeitswelt

„Vor allem jüngere Mitarbeiter wünschen sich mehr Leichtigkeit und Spaß in der Arbeitswelt. Selbstverwirklichung steht vor Leistung.“ Genau diese Botschaft werde über einen lockeren Kleidungsstil und besonders menschliche Kommunikation transportiert, so die Etikette-Fachfrau, die deutschlandweit Unternehmen berät.

„Das neue Erscheinungsbild trifft den Nerv der Zeit“, sagt Stefanie von Carlsburg, Haspa-Sprecherin. Erstaunlich schnell habe sich der lockerere Kleidungsstil bei der Mehrheit der etwa 5000 Beschäftigten durchgesetzt. Wichtig ist ihr, dass das Ablegen der Krawatte genau wie der Wechsel vom dunkelblauen Kostüm zum Sommerkleid auf Freiwilligkeit beruhe.

Hürden und Distanz werden abgebaut, glauben Experten

„Was es bedeutet, sich angemessen zu kleiden, können die Kollegen vor Ort am besten einschätzen. Wir haben lediglich eine Orientierung gegeben“, so von Carlsburg. Auch bei den meisten Kunden komme die neue Sparkassen-Etikette gut an. „Es werden Hürden und Distanz abgebaut“, sagt die Sprecherin.

Ebenfalls positiv die Reaktionen bei der Otto Group. Das Du werde für viele Mitarbeiter immer normaler, sagt Jennifer Buchholz aus der Unternehmenskommunikation. Auch Vorstandschef Schrader, übrigens selbst im Geschäftsbericht ohne Krawatte, werde häufiger mit seinem Spitznamen Hos angesprochen. „Der Umgang ist insgesamt lockerer, und so kommt es mir vor, freundlicher geworden“, sagt die Sprecherin.

Wie der Kulturwandel in Gang kommt

Zwar gebe es gerade bei langjährig beschäftigten Mitarbeitern auch Unsicherheiten. „Aber dann kann die Frage nach dem Duzen ja ein Gesprächsopener sein“, so Buchholz, die selbst manchmal zu einem kleinen Stilmittel greift und ihren Nachnamen in einer Mail in Klammern setzt. Die neuen Gepflogenheiten, die auf unterschiedliche Weise im Unternehmen kommuniziert werden, gehörten zum laufenden Prozess eines gewünschten Kulturwandels. „Sie sind Teil eines digitalen Transformationsprozesses.“

Der Kleidungsstil als Statement für die Erschließung neuer Geschäftsbereiche? Was die Internet-Pioniere aus dem Silicon Valley vorgemacht haben, ist inzwischen auch in der eher konservativen deutschen Wirtschaft angekommen. Spätestens seit der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche, sich kürzlich mehrfach in Turnschuhen und mit offenem Hemdkragen präsentierte, etwa beim Gespräch mit dem Uber-Gründer Travis Kalanick, sind die Klamotten des Chefs Programm.

Arbeitsgruppe berät die Kleiderordnung

Selbst das elegante Jacobs Restaurant wirbt inzwischen mit „neuer Einfachheit“. Die dunkelblauen Uniformen samt goldener Knöpfe wurden im Mai nach einer Umgestaltung des Luxus-Restaurants eingemottet. Das Service-Personal trägt jetzt Kleid mit Blume (Damen) oder karierte Weste (Herren). Über die Lockerung des strengen Dresscodes in der Verwaltung berät noch eine Arbeitsgruppe.

Als größere Revolution in der Institution gelebten Hanseatentums gilt vielen jedoch die Einführung des hanseatischen Sies, das – so die Intention – den neuen Stil erfahrbar machen soll. Offenbar mit positiver Resonanz. „Die neue Lässigkeit spricht viele neue und jüngere Gäste an und auch die Stammgäste sind begeistert“, sagt Jost Deitmar, der jetzt zwar mit Bart, aber ungern ohne Krawatte unterwegs ist.

Kaffeekönig legt großen Wert auf gute Sitte

Andere Unternehmen, wie Kaffeeröster J.J. Darboven, stemmen sich gegen den Lässigkeitstrend. Firmenchef Albert Darboven, Jahrgang 1936, legt großen Wert auf gute Sitten und Umgangsformen. „Die Begrüßung per Handschlag, auch bei internen Meetings ist üblich und wird gepflegt“, sagt Sprecherin Ute Lund. „So wird der Respekt zum Ausdruck gebracht.“

Zugleich sorgen die eingeführten Standards auch für Orientierung und schützen vor Fehlern. Die neue Lässigkeit bedeutet ja nicht, dass es keine Regeln mehr gibt. Sie sind nur anders. Die Haspa etwa hat deshalb zusammen mit der Parole „oben ohne“ eine Art Stylebook für den internen Gebrauch an die Mitarbeiter verteilt, in dem gezeigt wird, was geht und was nicht. Auch bei der Fluggesellschaft Air Berlin gibt es für das sommerliche Outfit im Büro klar definierte „Dos und Don’ts“.

Allerdings sollte man nicht in Shorts ins Büro kommen

„Es besteht die Gefahr, dass Mitarbeiter in Shorts und Flip-Flops kommen“, sagt Imageberaterin Diller. Sie verzeichnet mehr Anfragen und einen erhöhten Beratungsbedarf. In Workshops und Vorträgen zeigt sie Grenzen und Möglichkeiten der neuen Kleiderordnung auf. „Es geht nicht darum, ob, sondern welche Jeans und Turnschuhe man trägt.“ Das gelte auch ganz besonders für Chefs, die bislang schon durch die Auswahl der Kleidung in ihrer Funktion zu identifizieren gewesen seien. „Da ändert sich eine Menge.“

„Es ist wichtig, dass die neue Lässigkeit keine neue Nachlässigkeit wird“, sagt auch Marc Nelson, der als Trainer für die Deutsche Knigge Gesellschaft Seminare und Kurse für Umgangsformen und Business-Etikette in Hamburg anbietet.

Für den 52-Jährigen, der auf einem Foto seiner Internetpräsentation mit modischem Binder zu sehen ist, bleibt „die Krawatte, ein wichtiges Accessoire für einen gut gekleideten Mann“. Und auch Ausdruck einer Haltung. Er setzt darauf, dass Mann sich das auch in Zukunft nicht nehmen lassen wird. Allerdings entwickelten sich neue Varianten. „Gerade jüngere Männer tragen häufiger einen leichten Schal“, so Nelson.

Der Trend scheint im Moment unumkehrbar, auch wenn es weiter Krawattenträger geben wird. Allerdings könnte schon im Herbst eine weitere Bastion des Herren-Accessoires fallen. Beim noblen Übersee-Club gibt es ernst zu nehmende Überlegungen, die Krawatten mittags nicht mehr vorzuschreiben.

Schon jetzt kämen immer wieder Herren oben ohne, heißt es, denen derzeit mit einen Leihbinder ausgeholfen werde. Das Präsidium soll im Oktober in der Causa entscheiden. Ausgang ungewiss. Abends ab 19 Uhr allerdings, das ist unumstößlich klar, bleibt es bei der Krawattenpflicht.