Warum die Krawatte heute auch einen Symbolwert hat, wenn man sie nicht trägt

Es gibt diese schöne Geschichte aus dem Übersee-Club. Sie handelt von einem älteren Hamburger Kaufmann, der, als Hanseat von Kopf bis Fuß, beim Mittagessen von einem Freund gefragt wird, wie das denn nun sei mit der Hamburger Gesellschaft und der Krawatte. Der Kaufmann zwirbelt an seinem Einstecktuch, bricht dann ein Stück Brot ab, schiebt es sich in den Mund und sagt, als er zu Ende gekaut hat: „It’s over, my friend.“

Normalerweise eignet sich die Krawatte an sich nicht als Gegenstand eines Leitartikels. Es sei denn, sie wird in einer Stadt wie Hamburg in derart großem Stil abgelegt wie im Moment. Ob Bürgermeister, Haspa-Vorstand oder Otto-Chef – man sieht die Spitzen der Gesellschaft immer öfter oben ohne. Die meisten gern elitär genannten Clubs haben ihren Krawattenzwang längst abgeschafft. Jetzt überlegt sogar der Letzte, der bereits genannte Übersee-Club, ihn zumindest zu lockern. Erst mal nur mittags, aber seien wir ehrlich: Das wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen.

Die Clubs folgen dabei einer Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist und die der oben zitierte Hamburger Kaufmann so treffend beschreibt. Es ist vorbei mit dem Krawattenzwang. Mehr noch: Jenseits ihrer Verwendung als modisches Accessoire hat sich die Bedeutung der Krawatte deutlich verändert. Früher symbolisierte sie ausschließlich Seriosität, Respekt, Vertraulich- und Feierlichkeit. Dafür steht sie heute durchaus weiter, aber wer bewusst darauf verzichtet, demonstriert auch etwas anderes: eine im wahrsten Sinne des Wortes neue Offenheit (oberster Hemdknopf!), eine Lässigkeit und, ja auch das!, Stilsicherheit.

So wie das Tragen einer Krawatte in der Vergangenheit eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl transportierte – das ist einer von uns, der weiß, was sich gehört –, hat heute das genaue Gegenteil Symbolwert. Der Verzicht auf die Krawatte bedeutet: Das ist einer von uns, der geht mit der Zeit.

Gerade Politiker legen nicht umsonst immer öfter ihre Binder ab. Was früher nur bei den sogenannten Sommerinterviews im Fernsehen üblich und in der Regel dem Wetter geschuldet war, wird heute gezielt eingesetzt, um frisch und modern zu wirken – und nicht als Teil eines Establishments, das vermeintlich seine besten Zeiten hinter sich hat.

Die neue Leichtig- und Lässigkeit wird dabei gerade in Hamburg getrieben von den Veränderungen in der Wirtschafts- und Kaufmannswelt, in denen die neuen Unternehmer eben eher so aussehen wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und nicht wie der klassische Reeder. Der Krawattenverzicht auf Führungs- und sowieso allen anderen Ebenen geht dabei einher mit niedrigeren Hierarchien, mit Eltern-, Teil- und insgesamt anderen Arbeitszeiten, mit einem generellen „Du“, das inzwischen sogar beim urhanseatischen Unternehmen Otto gilt.

Soll heißen: So, wie es bisher ein Statement war, eine Krawatte zu tragen, ist es heute auch ein Statement, es nicht zu tun. Weder gegen das eine noch gegen das andere ist natürlich etwas einzuwenden. Trotzdem sind In­stitutionen und Unternehmen, bei denen noch das Kleidungsstück betreffende Zwänge bestehen, gut beraten, darüber nachzudenken. Krawattenvorschriften passen wirklich nicht mehr ins 21. Jahrhundert, in dem einige der einflussreichsten Menschen der Welt in T-Shirts und Turnschuhen herumlaufen. Wenn man daran festhält, sollte man sich bewusst machen, das man damit ein Zeichen setzt. So oder so.