Staatsanwaltschaft Hannover erhebt Anklage gegen 93-Jährigen wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz in 300.000 Fällen.
Lüneburg. Am 17. September 1945 begann in Lüneburg der erste Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden nach dem Ende der Nazi-Herrschaft. Jetzt spricht vieles dafür, dass in dieser Stadt auch einer der letzten Prozesse um NS-Verbrechen stattfindet. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat Anklage erhoben gegen einen 93-jährigen Mann aus der Nordheide wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zwischen Mai und Juli 1944 im Konzentrationslager Auschwitz.
Das britische Militärgericht verurteilte 1945 insgesamt elf Männer und Frauen zum Tode, die meisten von ihnen waren SS-Mitglieder und gehörten zur Lagerverwaltung im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurden in Hameln durch den Strang gerichtet.
Schwurgerichtskammer am Landgericht Lüneburg entscheidet über Zulassung
Ausgangspunkt der späten Anklage gegen den Mann aus der Nordheide ist das Urteil gegen den KZ-Wächter John Demjanjuk. Den hat das Landgericht München im Jahr 2011 wegen Beihilfe zum Mord auch ohne den Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung verurteilt. Während des Revisionsverfahrens ist Demjanjuk gestorben, es gibt zum aufsehenerregenden Urteil des Landgerichts München noch keine Entscheidung des Bundesgerichtshofs.
Ganz unabhängig davon aber hat die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg in Baden-Württemberg den Staatsanwaltschaften quer durch die Bundesrepublik Ermittlungsakten von circa 30 ähnlich gelagerten Fällen übergeben. Die dafür in Niedersachsen zuständige Staatsanwaltschaft Hannover hat vier solcher Akten erhalten. Ein Beschuldigter ist inzwischen gestorben, zwei sind verhandlungsunfähig.
So blieb nur die Anklage gegen den jetzt 93-Jährigen. Er ist auf freiem Fuß, hat mit der Staatsanwaltschaft gesprochen. Ob er im Prozess aussagt, ist offen. Als Freiwilliger der Waffen-SS hat er nach Überzeugung der Anklagebehörde geholfen, das Gepäck von Hunderttausenden von Juden, die aus Ungarn deportiert wurden, direkt auf der Rampe von Auschwitz wegzuschaffen, um die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge zu verwischen.
Die Staatsanwaltschaft ist sich sicher: „Dem Angeschuldigten ist bewusst gewesen, dass die im Rahmen der Selektion als nicht arbeitsfähig eingestuften überwiegend jüdischen Häftlinge unmittelbar nach ihrer Ankunft in eigens dafür errichteten Gaskammern ermordet wurden. Durch seine Tätigkeit hat er dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Tötungsgeschehen unterstützt.“ Zudem war er zuständig für die Zählung von Banknoten, die aus dem Gepäck der Deportierten stammten. Gegen den Mann aus der Nordheide ist bereits vor knapp 30 Jahren ermittelt worden, das Verfahren wurde aber am 6. März 1985 mangels Beweisen eingestellt.
Nun entscheidet die Schwurgerichtskammer am Landgericht Lüneburg über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung. Der Kammer liegen bereits mindestens 16 Anträge von Überlebenden und Angehörigen von Opfern auf Zulassung zur Nebenklage vor. Entscheiden muss die Kammer über die Zulassung zur Hauptverhandlung unter ihrem Vorsitzenden Franz Kompisch, einem erfahrenen Strafrichter, der als souverän in der Verhandlungsführung gilt. Der 46-Jährige stammt aus Hamburg, hat dort auch Jura studiert und ist seit 2000 Richter auf Lebenszeit in Lüneburg mit Stationen an Strafsenaten in Celle und Stade. Chef des Schwurgerichts ist er seit 2010.
Das Landgericht Lüneburg hat für den Fall, dass die Anklage zur Hauptverhandlung kommt, bereits ein Akkreditierungsverfahren für Journalisten angekündigt. Eben weil es der vielleicht letzte Prozess dieser Art ist – knapp 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Herrschaft. Auch 1945 hat es große öffentliche Aufmerksamkeit gegeben für den ersten Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden.
Damals meldeten sich etwa 200 Journalisten und Prozessbeobachter aus aller Welt an. Neben den elf Todesurteilen gab es am 17. November zum Abschluss des Verfahrens eine Verurteilung zu lebenslanger Haft und 15 meist langjährige Haftstrafen. 15 Angeklagte wurden freigesprochen. Fast alle Haftstrafen wurden später verkürzt.