Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering spricht im Interview über den Soli-Zuschlag, Alphatiere im Norden, Rentnerparadiese an der Küste und die Gas-Pipeline aus Russland.
Am Bahnhof von Schwerin verweigert der Taxifahrer die Mitnahme. „Das ist nicht weit“, knurrt er auf die Frage, ob er uns zur Staatskanzlei bringen könnte. Gut so! Auf dem Weg quer durch die Innenstadt fällt auf, wie gründlich und liebevoll Schwerin saniert und restauriert wurde. Um im Büro von Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) fällt der Blick auf das prachtvolle Schloss, das den Landtag beherbergt. Brauche die hier noch den Soli-Zuschlag? Auch darum geht es in dem Gespräch mit einem der Regierenden des Nordens.
Hamburger Abendblatt: Herr Sellering, vor 25 Jahren fielen Mauer und Eiserner Zaun. Ist Mecklenburg-Vorpommern heute eher ein ostdeutsches oder ein norddeutsches Bundesland?
Erwin Sellering: Wir sind beides. Mecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeutschen Länder haben eine gemeinsame Geschichte und seit 1990 eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. Das stärkt ein gemeinsames Lebensgefühl, vor allem wenn aus Westdeutschland das eine oder andere negative Vorurteil kommt. Aber wenn es um unsere Entwicklungsmöglichkeiten geht und um unsere wirtschaftlichen Potenziale, dann sind wir eindeutig norddeutsch. Unsere Chancen liegen im Norden.
Und sie selbst? Fühlen Sie sich wohler, wenn Sie mit den Nord-Regierungschefs zusammentreffen oder mit den Kollegen aus Ostdeutschland?
Sellering: Die Zusammenarbeit ist in beiden Fällen sehr gut. Und als Land haben wir potenziell mehr Unterstützung, wenn wir mit den Ländern im Norden und im Osten zusammenarbeiten.
Oder man gehört nirgendwo richtig dazu.
Sellering: Da muss man ein bisschen aufpassen. Aber das ist bisher ganz gut gelungen.
Ziele visieren Sie denn als nächstes mit Ihren norddeutschen Kollegen an? Die Energiewende ist eingetütet. Was kommt als nächstes?
Sellering: Die Energiewende bleibt natürlich ein großes Thema. Da haben wir gemeinsam wichtige Verbesserungen erzielt, insbesondere für die Windkraft. Ein weiteres großes Thema ist die Infrastruktur. Da ist in den vergangenen Jahrzehnten einiges vernachlässigt worden. Da machen wir gemeinsam deutlich, dass die Anbindung unserer Häfen nicht allein den norddeutschen Ländern zu Gute kommt. Sie ist wichtig für ganz Deutschland. Wenn Bayern etwas zu verschiffen hat, dann brauchen die unsere Häfen.
Hat Schleswig-Holstein Ihrem Land eigentlich noch irgendetwas voraus?
Sellering: Das müssen Sie beurteilen. Ich kann Ihnen sagen, wo wir im Vergleich stolz sein können: Im Tourismus sind wir außerordentlich erfolgreich. Und wir machen schon seit 2006 keine neuen Schulden mehr.
Dank des zusätzlichen Geldes, das Ihr Land erhält.
Sellering: Das ist richtig. Aber es ist auch ganz klar, dass wir dieses Geld in den Aufholprozess stecken, in dem wir uns noch immer befinden, nicht in zusätzliche Polizisten und Lehrer. 2019, wenn alle Unterstützungsmaßnahmen für die ostdeutschen Bundesländer auslaufen, werden wir unsere Zukunft aus eigener Kraft gestalten.
Also klare Ansage: Ab 2019 braucht Mecklenburg-Vorpommern den Soli nicht mehr. Richtig?
Sellering: Wir müssen dann auf eigenen Beinen stehen. Wir sind wirtschaftlich wirklich gut voran gekommen, gerade dank der kleineren Betriebe. Und wir müssen uns ganz klar darauf einstellen, dass es ab Ende 2019 keine besondere Ostförderung mehr geben wird.
Und Schleswig-Holstein bekommt einen Soli-West, damit es wieder zu Ihnen aufschließen kann?
Sellering: Förderung nach Himmelsrichtung wird es dann mehr geben können. Aber es wird einzelne Regionen geben, und zwar in Ost wie in West, denen man unter die Arme greifen muss. Solche Regionen sollten dann gezielt gefördert werden.
Teile Ihres Bundeslandes sind Mitglied der Metropolregion Hamburg. Nehmen die Menschen das überhaupt war?
Sellering: Natürlich. Das wird ja auch ganz konkret gelebt. Die Metropolregion zeichnet im Prinzip nur die wirtschaftliche Realität nach. Hamburg ist unsere Metropole und nimmt diese Aufgabe für uns auch aktiv war. Andersherum erledigen wir auch unsere Aufgabe für Hamburg.
Wie definieren Sie denn die Rolle zumindest Ihres Landesteils Mecklenburg für Hamburg?
Sellering: Wir sind Teil des Umlands mit vielfältigem wirtschaftlichen Austausch. Von hier aus pendeln viele Menschen zur Arbeit in die Hansestadt. Und natürlich sind wir auch Naherholungs- und Urlaubsgebiet für Hamburg.
Hamburg baut ja sehr stark den Kreuzfahrttourismus aus, das wird eine Konkurrenz für sie mit ihren Häfen wie Warnemünde.
Sellering: Vielleicht. Aber uns eint dabei das Ziel, mehr ausländische Touristen in den Norden zu holen. Deswegen müssen wir den gesamten Ostseeraum verstärkt gemeinsam vermarkten, das ist unsere große gemeinsame Chance, wenn wir hier erfolgreich sein wollen.
Sie sind ja voll auf Harmoniekurs! Aber die Anziehungskraft Hamburgs nimmt doch gerade Ihnen die jungen Leute weg.
Sellering: Das gehört bei einer Metropole dazu, dass sie viele junge Menschen anzieht. Es wäre für unsere Statistik zwar schöner, wenn Hamburg zu Mecklenburg-Vorpommern gehören würde, so wie München zu Bayern. So ist es aber nun mal nicht. Ich glaube dennoch, dass sich die Attraktivität Hamburgs mit der Attraktivität unseres Landes bestens ergänzt. Im Übrigen hätten wir hier im Jahr 2013 erstmals mehr Zuzügler als Abwanderer.
Das liegt vermutlich an den vielen Rentnern.
Sellering: Stimmt nicht. Es fallen bei den Zuzüglern vor allem zwei Altersgruppen auf: die 35- bis 40-Jährigen. Und die 0 bis 4-Jährigen. Es sind die Familien, die hierher ziehen. Und das ist ja auch nahe liegend. Wir sind das Kinderland schlechthin; sie haben hier keinerlei Probleme, einen Betreuungsplatz oder eine Kita zu finden. Außerdem ist es nach zehn Jahren Großstadt bestimmt keine schlechte Idee zu uns zu ziehen. Wir sind als Bundesland für Familien hochattraktiv.
Keine Probleme? Nirgendwo?
Sellering: Unsere Hauptsorge lag und liegt immer noch in der Frage: Gibt es genug Arbeit, und wird diese Arbeit gut genug bezahlt?
Und?
Sellering: Es hat sich gegenüber den 90er Jahren jedenfalls stark verbessert. Damals hätten wir in manchen Regionen Arbeitslosenquoten von bis zu 35 Prozent, und die jungen Leute hatten gar keine andere Chance als wegzuziehen. Das ist zum Glück vorbei. Die Arbeitslosenzahlen sind auf dem niedrigsten Stand seit der Deutschen Einheit. Und in einigen Branchen macht sich auch bei uns schon der Fachkräftemangel bemerkbar.
Gibt es zwischen den Nord-Ministerpräsidenten eigentlich auch Konkurrenzverhalten? Dass der eine dem anderen mal eins auswischen will?
Sellering: Ganz im Gegenteil. Wir verstehen uns sehr gut.
Gibt es einen Wortführer, ein Alphatier, wenn sie zusammensitzen?
Sellering: So, wie Sie das meinen, sehe ich das nicht. Ich schätze alle sehr. Aber natürlich hat das Wort von Olaf Scholz als ehemaliger Bundesminister und Vizeparteichef der SPD ein großes Gewicht auch in unserer Runde.
Zu einem ernsteren Thema: Mecklenburg-Vorpommern hat über die North-Stream-Gaspipeline, die in Lubmin endet, eine direkte Verbindung zu Russland. Man könnte auch sagen, dass der derzeit schwelende Konflikt mit der Ukraine vor ihrer Haustür endet. Bereitet ihnen das Sorge?
Sellering: Ich sehe generell mit Sorge, unabhängig von der Pipeline, wie sich dieser Konflikt hochschaukelt. Wir wären sehr gut beraten, zu unserer bisherigen Sichtweise zurückzukehren und Russland wieder als Partner zu sehen. Und wir sollten Russland auch eine Rückkehr zu dieser Rolle zu ermöglichen.
Wie genau stellen Sie sich das vor?
Sellering: Wichtig wäre, Russland nicht als Gegner im kalten Krieg zu betrachten, sondern als wichtigen potenziellen Partner Deutschlands und der EU. Dann muss man allerdings auch so miteinander umgehen. Wir hier in Mecklenburg-Vorpommern werden die guten und wichtigen wirtschaftlichen Beziehungen jedenfalls aufrecht erhalten. Wenn das gelingt, ist das ein kleiner Beitrag zur Deeskalation.
Haben Sie mit North Stream in der jetzt akuten Phase gesprochen?
Sellering: Nein, das letzte Gespräch lag zeitlich davor. Bisher hat sich Nordstream immer als verlässlich erwiesen. Ich gehe davon aus, dass es ohne eine weitere große Eskalation hier keine Änderung geben wird. Russland hat ein großes Interesse an diesen Lieferungen und diesem wirtschaftlichen Austausch.
Gibt es im Osten Deutschlands mehr Verständnis für die russische Haltung als im Westen?
Sellering: In jedem Fall gibt es aus der Geschichte der DDR eine größere Nähe, in der positiven wie auch in der kritischen Sichtweise. Mir scheint, der Wunsch nach einem friedlichen, konstruktiven Miteinander mit Russland ist bei uns noch ausgeprägter als im Westen.
Sigmar Gabriel hat schon vor Krieg in Europa gewarnt.
Herr Sellering, jetzt haben wir kaum über eines der beherrschenden Themen der vergangenen Jahrzehnte gesprochen, über den Rechtsradikalismus in ihrem Bundesland. Wie sehen Sie die Lage?
Sellering: Differenziert. Ich freue mich darüber, dass sich inzwischen Zehntausende gegen Nazis stellen, und das wird mittlerweile bundesweit bemerkt. Aber das Problem ist damit noch nicht gelöst, denn die Rechtsextremen haben hier in Mecklenburg-Vorpommern sehr gezielt Personal und Mittel konzentriert. In manchen Gegenden sind sie leider noch immer stark, aber ich hoffe, dass sich das ändert. Ich setze auch sehr darauf, dass die NPD, falls sie bis dahin nicht verboten ist, bei der nächsten Landtagswahl 2016 nicht wieder in das Parlament einzieht.
Resultieren die Erfolge aus der positiven wirtschaftlichen Entwicklung?
Sellering: Da gilt: Auch schlechtere wirtschaftliche Rahmenbedingungen dürfen nicht als Ausrede für rechtsextremes Gedankengut dienen oder dafür, rechtsextrem zu wählen. Aber natürlich spielt es auch eine Rolle, welche Perspektiven man in der Umgebung der Menschen bieten kann, und da haben wir uns eindeutig verbessert. Das hilft. Der entscheidende Punkt ist, dass die Menschen sagen: Wir wollen das hier nicht haben! Und das beobachte ich zunehmend. Das ist auch eine Frage des gewachsenen Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls. Und wenn die Gäste zu uns kommen und sagen, wie schön sie es hier finden, dann hilft übrigens auch das.
Gut, dann geben Sie den Hamburgern und anderen Norddeutschen einen Geheimtipp für einen Ausflug nach Mecklenburg-Vorpommern!
Sellering: Da begebe ich mich aber auf Glatteis! Denn natürlich ist es bei uns überall schön. Relativ nah ist der Schaalsee. Und die Küste ist ja ohnehin bekannt. Aber gut: Ich wandere sehr gern in dem Durchbruchstal der Warnow. Da ist es etwas hügeliger, und die Warnow hat sich über Jahrhunderte hinweg ihren Weg gebahnt. Das ist ein Anblick, der geht an die Seele.