Anwälte fürchten, dass durch geplante Reform künftig mehr Führerscheine kassiert werden. Fahrlehrer wehren sich gegen Abzocke-Vorwurf.
Goslar. Die geplante Reform des Flensburger Punktekatalogs benachteiligt nach Ansicht des Verkehrsgerichtstags-Präsidenten Kay Nehm vor allem Vielfahrer. Der frühere Generalbundesanwalt Nehm kritisierte am Mittwoch in Goslar, wenn jemand ständig weite Strecken fahre, könne er leicht durch Unachtsamkeit acht Punkte sammeln. Bei der geplanten Neuregelung wäre dann der Führerschein weg. Die Behörden hätten keinen Ermessensspielraum mehr, auch wenn es sich bei dem Betroffenen nicht um einen Verkehrsrüpel handele, kritisierte Nehm während der Auftakt-Pressekonferenz.
Beim 51. Verkehrsgerichtstag, der am Donnerstag eröffnet wird, wollen sich Juristen, Mediziner, Psychologen und Polizeibeamte sowie Vertreter von Verbänden, Automobilclubs, Versicherern und Unternehmen mit dem Punktekatalog befassen. Weitere Themen sind die Zukunft der Fahrausbildung sowie Maßnahmen gegen Aggressionen im Straßenverkehr.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) äußerte sich ebenfalls kritisch zur Reform der Verkehrssünderdatei. Sie bringe Autofahrern erhebliche Nachteile. Es werde zu einer Erhöhung der Geldbußen „auf breiter Front“ kommen, erklärte DAV-Verkehrsrechtsexperte Frank Häcker. Und es dürften deutlich mehr Führerscheine entzogen werden, weil ein Punkte-Abbau nicht mehr möglich sein soll.
Das Bundeskabinett hatte 2012 beschlossen, dass Autofahrer künftig weniger Strafpunkte für Verkehrsverstöße bekommen, dafür aber schon mit acht statt bisher 18 Punkten den Führerschein verlieren sollen. Voraussichtlich am 1. Februar wird sich der Bundesrat mit dem Thema befassen.
Die Neuerungen seien im Grundsatz zu begrüßen, erklärte ein ADAC-Sprecher. So sei es sinnvoll, dass nur noch Verstöße mit Punkten geahndet werden sollen, die Bedeutung für die Verkehrssicherheit hätten. Nicht nachvollziehbar sei hingegen, warum einige Bußgeldsätze angehoben würden, so etwa für das verbotene Befahren der umstrittenen Umweltzonen, was zwar keinen Punkt mehr einbringen, aber 80 statt 40 Euro kosten soll. Auch dass Verkehrssünder künftig keine Möglichkeit mehr haben sollen, Punkte durch die freiwillige Teilnahme an Seminaren abzubauen, kritisierte der ADAC.
Nehm sagte, gegen angriffslustige Rüpel im Straßenverkehr könne man schärfere Gesetze und eine härtere Gangart der Gerichte fordern. Er selbst als defensiver Fahrer sei aber überzeugt, dass nur eine Bewusstseinsänderung helfe. Es sollte zum Beispiel nicht sein, dass Raser mit Tempo 240 Autofahrer von der Überholspur drängten, die mit Richtgeschwindigkeit an einem Lastwagen vorbeifahren.
Das Interesse am Verkehrsgerichtstag mit seinen acht Arbeitskreisen ist nach Nehms Worten so groß wie nie zuvor. 1940 Teilnehmer seien ein neuer Rekord. Fast ein Viertel der Fachleute werde sich mit der Geschwindigkeitsüberwachung befassen. Auf Deutschlands Straßen werde mit immer PS-stärkeren Autos immer schneller gefahren. „Rund 40 Prozent aller Unfälle sind auf zu hohe Geschwindigkeit zurückzuführen.“ Viele Autofahrer reizten die Toleranzen aus und würden gerade so schnell fahren, dass sie den Führerschein nicht sofort verlieren, wenn sie geblitzt werden.
Schlechte Ausbildung? Fahrlehrerverband wehrt sich gegen Kritik
Auch eine gute Ausbildung von Fahranfängern erhöht Sicherheit auf den Straßen. Nun ist über die Führerschein-Ausbildung eine heiße Debatte entbrannt: Zocken deutsche Fahrlehrer ihre Schüler ab oder muss das gesamte Ausbildungssystem auf den Kopf gestellt werden? Der Auto Club Europa (ACE) wirft vielen Fahrlehrern vor, auf einen Misserfolg ihrer Schüler zu spekulieren, um später mehr Stunden abrechnen zu können. Am Rande einer Expertentagung in Goslar wehrte sich am Mittwoch der Verband der Fahrlehrer und kündigte eine Studie an. Sie soll zeigen, warum Fahrschüler bei der Prüfung versagen.
Bei den Automobilclubs steht die Ausbildung am Steuer auf breiter Front in der Kritik: zu teuer und zu schlecht nennt sie der Auto Club Europa (ACE), zu kurz ist sie nach Ansicht des größten deutschen Automobilclubs ADAC. Fahrschüler sollten künftig mehr Zeit mit ihrem Lehrer verbringen, forderte ADAC-Vizepräsident Ulrich Klaus Becker. Ab Mittwoch treffen sich im niedersächsischen Goslar knapp 2.000 Fachleute und werden unter anderem über eine Verbesserung der Fahrausbildung diskutieren.
Fahrlehrer finden Abzocke-Vorwurf „hirnrissig“
Wegen der gestiegenen Anforderungen im Straßenverkehr sei die Zeit von der ersten Fahrstunde bis zur Prüfung „schlicht zu kurz“, sagte Becker. Zuvor hatte der ACE den Fahrschulen vorgeworfen, den jungen Autofahrern nur unzureichend Wissen zu vermitteln. So kommt es, dass jedes Jahr Hunderttausende durch die Prüfungen rasseln: Nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes endet mehr als jede vierte theoretische oder praktische Prüfung nicht erfolgreich.
Dies den Ausbildern anzulasten, erzürnt den Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände, Gerhard von Bressensdorf. In wenigen Wochen will er die Kritik kontern und Zahlen liefern. Ein Vergleich zwischen Bayern und Sachsen soll zeigen, aus welchen Gründen Fahrschüler die Prüfung nicht packen.
Zudem wies von Bressensdorf die vom ACE erhobene Abzocke-Kritik zurück. „Dieser Vorwurf ist sowas von hirnrissig“, sagte er. „Wir haben es leid, ständig diese Angriffe erdulden zu müssen.“ Diese seit Jahren wiederholt von Automobilclubs angestellten Vermutungen diffamierten die komplette Fahrlehrerschaft. Ein Lehrer könne gar nicht abzocken, weil eine Schule mit schlechtem Ruf angesichts der großen Konkurrenz gar nicht überleben könne.
ADAC-Vize Becker schlug indes vor, den regulären Lernzeitraum moderat zu verlängern und Inhalte zu straffen. „Man kann sich schon die Frage stellen, warum ein Fahrschüler perfekt einparken können muss, aber das Überholen auf der Landstraße nicht ausreichend üben kann.“ Außerdem plädierte Becker dafür, dass Fahranfänger auch nach bestandener Prüfung nochmals einige Zeit in Begleitung eines Fahrlehrers fahren. Dies unterstützt auch der Automobilclub von Deutschland (AvD). Vorgeschriebene Sicherheitstrainings und Kontrollfahrten seien im Sinne vieler Bürger, teilte er mit.
Zuvor hatte der konkurrierende Club ACE solche Kontroll-Fahrstunden abgelehnt, weil sich dadurch der Führerschein erheblich verteuern könnte. Schon jetzt zahlten Fahranfänger rund 1.800 Euro. An dieser Stelle setzt die Kritik an, denn nicht überall sieht der ACE die pädagogischen Standards erfüllt. Viele Fahrschulen stünden zudem unter einem immensen Druck, da es weniger junge Menschen gibt, aber mehr Fahrlehrer. Im Jahr 2011 wurden mit 885.000 rund 40.000 Führerscheine weniger als im Vorjahr ausgestellt, zugleich wuchs die Zahl der Fahrlehrer um etwa 700 auf 55.100.
Fachleute diskutieren Verbesserungen im Verkehrsrecht
Der Präsident des Verkehrsgerichtstages, Ex-Generalbundesanwalt Kay Nehm, verteidigte zum Auftakt der Konferenz die Fahrschulen. Die hohe Quote an nicht bestandenen Fahrprüfungen könne nicht alleine den Schulen angerechnet werden. Der Verkehr werde komplexer, weil die Zahl an Fahrzeugen steige. Jedoch liege bei der Ausbildung „einiges im Argen“, sagte Nehm und kündigte Diskussionen in einem eigenen Arbeitskreis bei der Expertentagung an.
Seit 1963 tagen die Fachleute des Verkehrsrechts jährlich Ende Januar im niedersächsischen Goslar. Mit mittlerweile fast 2.000 Teilnehmern platzt das Städtchen am Harz aus allen Nähten. Weitere Themen neben der Ausbildung sind bis Freitag unter anderen der Schadenersatz nach einem Unfall, aggressives Verhalten im Verkehr und die bevorstehende Reform des Punktesystems für Verkehrssünder.