Es könne nicht sein, dass „der Bund politisch haftbar gemacht“ werde, sobald es in einem Bundesland zum Skandal komme.

Berlin. Kontrolle der Kontrolle: Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) fordert als Konsequenz aus dem sich ausweitenden Dioxin-Skandal mehr Bundeskompetenzen bei der Futtermittelkontrolle. „Gegenwärtig verbietet es mir das Grundgesetz, die Kontrollpraxis (der Länder) zu kontrollieren“, sagte Aigner der „Bild am Sonntag“. Es könne nicht sein, dass „der Bund politisch haftbar gemacht“ werde, sobald es in einem Bundesland zum Skandal komme. Am Sonnabend war bekanntgeworden, dass bundesweit weitere 1000 landwirtschaftliche Betriebe wegen Dioxinverdachts gesperrt wurden.

„So geht das nicht weiter“, sagte die Ministerin. „Wir brauchen mehr Kontrollen und bundeseinheitliche Kontrollstandards.“ Für Dienstag habe sie ihre Länderkollegen zum Gespräch eingeladen. Der Grund für die neuerliche Ausweitung des Dioxinskandals: Ein Tierfutterhersteller im niedersächsischen Damme, ein Kunde der Firma Harles und Jentzsch – dem mutmaßlichen Ausgangspunkt des Dioxins im Tierfutter – soll Lieferdaten nicht an die Behörden gemeldet haben. Das Futter sei an 934 Betriebe gegangen, auch in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Bayern, teilte das Bundeslandwirtschaftsministerium mit. Aigner, die am Freitag das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Oldenburg besucht hatte, warf der Landesbehörde vor, ihr die Ausweitung des Skandals verschwiegen zu haben, und forderte Ministerpräsident David McAllister (CDU) auf, bis Sonnabendabend personelle Konsequenzen zu ziehen.

Das Ultimatum verstrich jedoch ohne Reaktion. McAllister sagte im Radiosender ffn: „Frau Aigner hat das gegenüber den Medien gefordert. Nicht mir gegenüber, und deswegen habe ich darauf nicht reagiert.“ Er habe am Morgen mit Aigner telefoniert, alles weitere habe er dann den Medien entnommen. Der niedersächsische Agrar-Staatssekretär Friedrich-Otto Ripke verteidigte in der „Bild am Sonntag“ die Arbeit seines Ministeriums und forderte von der Bundesministerin Sachlichkeit ein: „Wir machen unsere Arbeit. Wir entscheiden schnell und sauber in der Sache. Das wünsche ich mir auch vom Bundesministerium.“

Der Futterhersteller in Damme leitete nach Angaben des Agrarministeriums in Hannover erst auf Druck der Behörden vollständige Lieferdaten weiter. Nach diesen neuen Informationen seien am Freitagabend weitere Höfe vorsorglich gesperrt worden. In Niedersachsen dürften derzeit rund 900 Betriebe keine Waren vermarkten. Das Ministerium geht davon aus, dass etwa zehn Tage lang vor allem Eier auf den Markt gelangt sein könnten. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg nahm Ermittlungen gegen den Futterhersteller auf und ließ die Geschäftsräume durchsuchen. Die Beamten wollten Beweismaterial sicherstellen. Aigner war selbst unter Druck geraten, weil sie erst nach einigen Tagen öffentlich auf den Dioxin-Skandal reagiert und zunächst auf die Länder verwiesen hatte. Grünen-Fraktionsvize Bärbel Höhn lobte Aigner für die Forderung nach personellen Konsequenzen in Niedersachsen. „Man hat ja das Gefühl, dass in dem Bundesland, wo das meiste Fleisch erzeugt wird, nicht genau hingeguckt wird, wie das passiert“, sagte sie dem Berliner „Tagesspiegel“ vom Sonntag.

Das Landwirtschaftsministerium in Hannover ist derzeit ohne Chef: Der neue Agrarminister Gert Lindemann wird nach dem Rücktritt von Astrid Grotelüschen erst an diesem Mittwoch vereidigt.

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Nach anhaltender Kritik an ihrem Krisenmanagement im Dioxin-Skandal ist Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) mit einem Aktionsplan in die Offensive gegangen. In zehn Punkten werden darin schärfere Kontrollen von Futtermittelproduzenten und höhere Sicherheitsstandards gefordert. So will die Ministerin ein "Frühwarnsystem" installieren, um Probleme mit der Lebensmittelsicherheit zu erkennen. Amtliche Kontrollen sollen transparenter und besser werden. Sobald entdeckt werde, dass Lebensmittel mit Umweltgift belastet seien, müsse dies verpflichtend auch veröffentlicht werden.

Zweieinhalb Wochen nach der Entdeckung von dioxinverseuchtem Tierfutter kündigte Aigner zudem eine Verpflichtung für private Labore an, Grenzwertüberschreitungen den Behörden zu melden. In der Europäischen Union will Aigner schließlich eine sogenannte Positivliste durchsetzen, in der die Mittel aufgeführt sind, die bei der Futterherstellung verwendet werden dürfen. Auch will die Ministerin durch neue Vorschriften festlegen, dass Futterfette und Futterfettsäuren nicht mehr in solchen Anlagen hergestellt werden dürfen, die gleichzeitig Stoffe für die technische Industrie produzieren. Die als Verursacher des aktuellen Dioxin-Skandals geltende Firma Harles und Jentzsch im schleswig-holsteinischen Uetersen soll mit Dioxin belastete technische Mischfettsäure zu Futterfett verarbeitet zu haben.

Vor ihrem nun veröffentlichen Aktionsplan war Aigner massiv unter Druck geraten. Vor allem wurde ihr vorgeworfen, zu langsam und unangemessen auf die Verseuchung von Eiern und Fleisch reagiert zu haben. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte Aigner als "völlig überfordert" bezeichnet, Grünen-Fraktionschefin Renate Künast hatte sogar den Rücktritt der Ministerin gefordert. Die Verbraucherorganisation Foodwatch nannte die Bundesregierung einen "Dienstleister der Futtermittelindustrie". Aigner sagte, in ihrem Haus wurden "alle Schritte eingeleitet, die wir einleiten konnten". Einen Rücktritt lehne sie deshalb ab. "Vielleicht hätte ich noch mehr kommunizieren müssen nach außen", räumte sie jedoch ein. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gab ihrer Verbraucherschutzministerin Rückendeckung. Sie habe als treibende Kraft und in richtiger Reihenfolge gehandelt, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Bei der Vorstellung ihres Zehn-Punkte-Plans sagte Aigner: "Abseits der schrillen Töne der vergangenen Tage sind die meisten meiner Vorschläge auch bei der Opposition auf Zustimmung gestoßen." Zwar hatten zuvor die SPD-geführten Länder einen eigenen Katalog für sichere Futtermittel präsentiert, dennoch muss Aigner auf deren Zustimmung hoffen. Weil sie ihren Zehn-Punkte-Plan per Verordnung oder Gesetz umsetzen will, ist sie auf den Bundesrat angewiesen.

Hamburgs Gesundheitssenator Dietrich Wersich (CDU), in dessen Ressort auch der Verbraucherschutz fällt, sieht wirkungsvolle Maßnahmen in Aigners Aktionsplan, um die Konsequenzen aus dem Lebensmittelskandal zu ziehen. "Diese stärken in erster Linie den Verbraucherschutz, ohne jedoch die Unternehmen vor unüberwindbare Schwierigkeiten zu stellen", sagte Wersich dem Abendblatt.

Von SPD und Grünen gingen die Attacken auf Aigner jedoch weiter. Künast nannte den Aktionsplan "schwammig". Die Vorschläge hätte "auch die Futtermittelwirtschaft selbst schreiben können", kritisierte die frühere Bundesverbraucherschutzministerin. Künast forderte, Aigner müsse sich endlich für eine Positivliste einsetzen. Diese soll vorschreiben, welche Stoffe bei der Tierfütterung eingesetzt werden dürfen. Aigner halte jedoch immer dagegen, dies sei nur auf EU-Ebene machbar, beklagte Künast. Dabei sei eine Positivliste nur durchzusetzen, "wenn Deutschland vorangeht". Die Lebensmittelexpertin der SPD-Fraktion, Kerstin Tack, wertete den Maßnahmenkatalog als ungenügend. Es fehlten unter anderem eine Senkung der Grenzwerte, ein Informantenschutz und die verpflichtende Prüfung jeder Futtermittel-Charge.

Aigner will ihren Plan am 18. Januar mit den Verbraucherschutzministern der Länder erörtern. Mit Blick auf diesen Termin sagte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD), es gelte nun, "nicht nur zu reden und anzukündigen". Der Sprecher der Verbraucherorganisation Foodwatch, Martin Rücker, warnte: "Es darf dieses Mal keine Kompromisse mit der Futtermittellobby geben und keine weitreichenden Ausnahmen, die die Testpflicht löchrig machen." (dpa/abendblatt.de)