Cern-Direktor Rolf-Dieter Heuer über die mutmaßliche Entdeckung des Higgs-Teilchens und über eine Physik jenseits der uns bekannten Welt.
Dublin. Er war gerade erst mit dem Flieger aus Melbourne von der internationalen Teilchenphysikerkonferenz gekommen, deshalb blickte Rolf-Dieter Heuer etwas müde drein, als er in Dublin bei der Europäischen Wissenschaftskonferenz vor Journalisten Platz nahm. Knapp zwei Wochen zuvor hatte der Generaldirektor des Europäischen Kernforschungszentrums (Cern) in Genf bekannt gegeben, dass seine Physiker ein bisher unbekanntes Teilchen entdeckt hätten - höchstwahrscheinlich das Higgs-Boson, das zentrale und bis heute letzte unbewiesene Element des Standardmodells der Teilchenphysik. Der Nachweis dieses Partikels würde die Theorie über das sogenannte Higgs-Feld bestätigen, eine Art unsichtbaren Äther, der überall um uns herum ist, alles durchdringt und dafür sorgt, dass sich winzige Teilchen zusammenballen und so Materie bilden - Sterne, Planeten, uns Menschen. Gäbe es das Higgs-Feld nicht, wären alle Partikel masselos und würden deshalb mit Lichtgeschwindigkeit durchs All rasen.
Heuers Rede hatte unter Physikern für großen Jubel gesorgt; fachlich weniger bewanderte Betrachter hingegen verstanden zwar, dass es hier offenbar um etwas ganz Großes ging, waren aber zugleich irritiert. Das lag vor allem daran, dass Heuer auf die Frage eines Journalisten, ob sie denn nun das Higgs gefunden hätten, geantwortet hatte: "Als Laie würde ich sagen, wir haben es. Als Wissenschaftler muss ich fragen: Was genau haben wir?" War die Veröffentlichung voreilig, hätte er nicht besser noch warten sollen, bis Klarheit herrscht?
+++Forscher feiern Durchbruch: Higgs-Teilchen nachgewiesen+++
+++Der letzte unbekannte Baustein der Materie+++
In Dublin rechtfertigte der 64-Jährige sein Statement unter anderem mit dem großen Interesse der Öffentlichkeit. "Was immer wir herausfinden, ist doch häufig schon bekannt, bevor wir es veröffentlichen", sagte Heuer. Zugleich habe das Cern eine Verpflichtung gegenüber der Wissenschaftsgemeinde, seine Ergebnisse zu präsentieren. Der Anlass dafür sei in erster Linie die Konferenz in Melbourne gewesen. "Wenn wir etwas haben, können wir nicht fünf Jahre warten, bis wir es bekannt geben." Es sei normal, eine Entdeckung zu veröffentlichen und erst danach die Details zu untersuchen. Oberflächlich betrachtet handele es sich ja auch sehr wahrscheinlich um das Higgs, sagte Heuer. "Aber als Wissenschaftler muss ich vorsichtig sein und sagen: Wir müssen jetzt die Eigenschaften des Teilchens messen, um es genauer bestimmen zu können."
Was aber untersuchen die Cern-Physiker jetzt genau, und wie lange wird das dauern? Vor allem gehe es um den sogenannten Spin, erläuterte Heuer. Damit ist gemeint, dass Teilchen in unterschiedlicher Weise um ihre eigenen Achsen rotieren. Das Higgs-Boson hingegen hat dem Standardmodell zufolge keinen Spin, keine bevorzugte Richtung - dadurch ließe es sich eindeutig abgrenzen.
Vielleicht zeige sich, dass das neu entdeckte Partikel dem Higgs-Boson stark ähnelte, sagte Heuer. "Das ist so, als würde man in der Ferne einen Menschen sehen und denken: Das ist mein bester Freund. Er ist aber noch zu weit weg, um ihn scharf sehen zu können. Wenn er näher kommt, stellt sich vielleicht heraus, dass es sich um seinen Zwilling handelt. Die beiden sehen fast gleich aus, aber sie unterscheiden sich minimal in ihren Eigenschaften. Genau das prüfen wir jetzt bei dem neuen Teilchen." Bis zum Ende des Jahres könne er womöglich Genaueres sagen. "Aber das kann ich nicht versprechen."
Und was wäre, wenn es sich nicht um das Higgs-Boson handelt? Dann müssten Physiker zwar weitersuchen, um die Theorie vom Higgs-Feld zu bestätigen, dafür könnte das neue Teilchen jedoch "auf eine Physik jenseits des Standardmodells hinweisen", sagte Heuer. "Und eine solche Physik muss existieren." Der Grund: Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt zwar die Grundbausteine unserer Welt (Materieteilchen) und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken (Kraftteilchen). Damit lassen sich aber nur etwa vier Prozent der messbaren Masse und Energie im Universum erklären, etwa Planeten und Sterne. Der gewaltige Rest ist für uns unsichtbar und vermutlich gefüllt mit der sogenannten Dunklen Materie, die Galaxien wie ein Kitt zusammenhält, und der stärkeren Dunklen Energie, die gleichzeitig dafür sorgt, dass sich das Universum immer schneller ausdehnt.
Es gibt verschiedene Ansätze, die Zusammensetzung der Dunklen Materie zu erklären, etwa die Theorie der Supersymmetrie. Ihr zufolge hat jedes der bisher entdeckten Elementarteilchen noch ein Partnerteilchen. In der Natur traten sie nur kurz nach dem Urknall auf. Die leichtesten dieser sogenannten Susy-Teilchen könnten allerdings noch existieren und die Dunkle Materie bilden. Am Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) in Genf versuchen die Cern-Forscher, neben dem Higgs auch Susy-Teilchen zu erzeugen - bisher allerdings erfolglos. Die Supersymmetrie sagt allerdings nicht nur Susy-Teilchen voraus, sondern auch mindestens fünf verschiedene Higgs-Teilchen. Wenn das jetzt entdeckte Partikel nicht das Higgs-Boson ist, so könnte es immerhin Mitglied einer ganzen Familie von Higgs-Teilchen sein und damit Hinweise auf die Supersymmetrie und am Ende auf die Dunkle Materie liefern, sagte Heuer. "Das wäre sehr aufregend."
Die Suche am Cern ist also noch längst nicht zu Ende. Ab Ende dieses Jahres wird der LHC für zwei Jahre ruhen. In dieser Zeit soll der ringförmige Beschleuniger so umgebaut werden, dass in ihm Teilchenstrahlen fast doppelt so stark aufeinanderprallen werden wie bisher. Bei diesen Kollisionen, so hoffen die Forscher um Heuer, könnten weitere neue Teilchen entstehen.