Nationaltorwart Robert Enke litt unter Depressionen, sein Tod berührt ein Tabuthema: Wie geht unsere Gesellschaft mit den Schwächeren um?
Hamburg. Der Fußballer Sebastian Deisler ist seine Depressionen seinerzeit offensiv angegangen und hat das Kind beim Namen genannt. Robert Enke konnte das wohl nicht. Was sind da für Mächte dahinter?", fragt "One Fish" und meint: "Hätten depressive Prominente den Nerv, ihre Depressionen öffentlich zuzugeben, würde wohl die ganze Tabuisierung mehr und mehr aufgelöst." Die Antwort der "Grenzgängerin" lässt nicht lange auf sich warten: "Mir reicht es schon, wenn ich meine Depressionen vor den engsten Freunden nicht mehr verbergen kann. Das ist schon schlimm für mich. Ich verüble es keinem Promi, wenn er damit nicht an die Öffentlichkeit geht."
Es ist Tag drei nach der Selbsttötung des Robert Enke. Und schlagartig ist im Lande eine Krankheit ins Licht gerückt, die wie keine zweite missgedeutet, fehlinterpretiert oder am besten gleich ganz und gar verschwiegen wird. Weil sie nämlich Kernfragen berührt, um deren Beantwortung viele gerne eine großen Bogen machen: Wie geht diese Gesellschaft mit ihren Schwachen um? Was passiert mit Menschen, die laut sagen: "Ich kann nicht mehr, ich halte den Druck nicht mehr aus"? Und wie hoch ist der Preis für das reibungslose Funktionieren des Einzelnen?
Klar, seit sich die gesellschaftliche Kommunikation mehr und mehr in anonyme Foren verlagert hat und sich Betroffene, siehe oben, zum Beispiel im "Kompetenznetz Depression" austauschen können, kann keine Rede mehr davon sein, dass es überhaupt noch Tabu-Themen gibt. Und seit zwei, drei Jahren sprechen nun auch mehr und mehr Experten von der "Volkskrankheit Depression". Allein die Zahlen stützten diese Einschätzung: Etwa vier Millionen Deutsche, fünf Prozent der Bevölkerung, erfüllen die Kriterien einer depressiven Störung. Und zehn Prozent der Bundesbürger erkranken mindestens einmal an einer sogenannten depressiven Episode.
Und dennoch hat die Diagnose Depression in der Öffentlichkeit nach wie vor mehr mit labilen Stimmungsschwankungen und dunkler Schwermütigkeit zu tun als mit einer ernst zu nehmenden Krankheit, die konsequent behandelt werden muss - weil sie sonst nämlich zum Tode führt. Experten gehen davon aus, dass etwa 90 Prozent der 11 000 Selbstmorde pro Jahr in Deutschland und der Selbstmordversuche (deren Zahl auf das Zehnfache geschätzt wird) im Rahmen einer Depression verübt werden.
"Vier Millionen Depressive in Deutschland - das kann nicht nur am Fernsehprogramm liegen", hat Harald Schmidt in bewusst flapsigem Ton jüngst formuliert. Der TV-Zyniker ist Schirmherr der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und setzt sich für eine offensive Aufklärung ein, "wenn der Unterschied verdeutlicht werden soll zwischen total depri sein, weil die Grillkohle feucht geworden ist, und einer ernst zu nehmenden Volkskrankheit". Betroffene auf dem Weg zu einer raschen Behandlung zu unterstützen sei auch dort nötig, "wo sie einen Großteil ihres Lebens verbringen - am Arbeitsplatz".
In der Tat scheint da ein gewaltiges Problem im Anmarsch. "Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. So stieg die Zahl der von psychischen Erkrankungen verursachten Arbeitsunfähigkeitsfälle seit 1995 um 80 Prozent", sagt Helmut Schröder vom Wissenschaftlichen Institut der AOK. Die 9,7 Millionen AOK-Versicherten waren im letzten Jahr durchschnittlich 17 Tage krankgeschrieben (2007: 16,3 Tage). Das Problem: Die Fehlzeit bei einer Atemwegserkrankung beträgt 6,4 Tage, bei einer psychischen Erkrankung 22,5 Tage. Auch bei der Deutschen Angestellten Krankenkasse hat der Anteil von Depressionen bei Krankmeldungen seit 1997 um mehr als die Hälfte zugenommen. Als Gründe nennt der AOK-Fehlzeiten-Report vom November dieses Jahres die rasante Entwicklung der Arbeitswelt: Bisherige Belastungen wie Nacht- und Schichtarbeit sind geblieben, neue wie berufliche Mobilität oder erhöhter Termin- und Leistungsdruck sind hinzugekommen. Ständige Erreichbarkeit und dazu die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes - all das sind mögliche Ursachen für eine depressive Erkrankung.
Allerdings lässt sich die steigende Zahl der Betroffenen nicht allein dadurch begründen. Für Dr. Peter Schönknecht von der Psychiatrischen Uni-Klinik Leipzig gibt es "keinen gesicherten Zusammenhang" zwischen der veränderten Arbeitswelt und den steigenden Fallzahlen, die auch damit zusammenhingen, dass die Krankheit mehr und mehr als solche erkannt werde. Der Privatdozent unterscheidet zwischen einer echten Depression und sogenannten Befindlichkeitsstörungen, die oft ereignisbedingt sind. "Depressionen aber haben oft keinen erkennbaren Anlass. Symptome sind der Verlust der Freudfähigkeit, Antriebsminderung, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Schuldgefühle", zählt Schönknecht auf. "Wir haben auch Menschen, die sich unaufhörlich Sorgen machen. Um die Kinder, die Enkelkinder - ohne dass es dafür nachvollziehbare Gründe gebe."
Was die Patienten eint, ist die Tatsache, dass sie sich viel zu spät medizinische Hilfe holen und diese Probleme oft Monate oder Jahre mit sich selbst auszumachen versuchen. Weil sie ihre Seelenfinsternis für Schwäche halten, weil sie in einer reinen Gewinner-Verlierer-Gesellschaft nicht auf die falsche Seite geraten wollen. Und weil sie nach wie vor damit rechnen müssen, dass ihnen von der Gesellschaft Ablehnung und Unverständnis entgegenschlägt.
"Depressionen werden oft unterschätzt und irgendwo zwischen Schnupfen und Einbildung angesiedelt. In Wirklichkeit aber handelt es sich um eine lebensgefährliche Krankheit. Sie ist wie ein bleierner Mantel, der sich über Körper und Geist legt", sagt Professor Ulrich Hegerl, Leiter des bundesweiten Kompetenznetzes Depression. Und die vielschichtigen Ursachen gehen von genetischen Dispositionen über frühkindliche Schädigungen, traumatische Erlebnisse, seelische Belastungen bis zu Überbeanspruchungen und einer Art Dauerstress.
Schönknecht sagt, dass eine frühzeitige Intervention wichtig sei und dass eine "individuelle Kombination aus Psychotherapie und Medikamentengabe gute Heilungschancen bringe". Und dass man offen, wie bei einer Blinddarmentzündung, über die Krankheit spreche. "Das ist Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen bekennen: Ja, ich darf krank sein."
Vor allem Frauen, weiß Dr. Gernot Langs, täten das bereits. "Das Verhältnis ist 70:30, bei Drogensucht und Alkoholismus ist es genau umgekehrt", sagt der Chefarzt der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt. "Männer werten Depressionen dagegen offenbar als Zeichen der Schwäche." Sein Rat: "Wir sollten von den Frauen lernen. Von Frauen geführte Unternehmen sind im Durchschnitt erfolgreicher als die von Männern geleiteten Firmen. Das mag mit der größeren Sozialkompetenz von Frauen zusammenhängen."
Langs sieht in dem Tod des Robert Enke jetzt "die Chance, das Thema zu enttabuisieren". Die Menschen, die unter Depressionen leiden, "sind nicht faul, sie sind keine Drückeberger, sie sind einfach psychisch nicht in der Lage, etwas zu leisten. Das müssen wir akzeptieren und tolerieren." Und er unterstreicht die Worte aus der Predigt der Landesbischöfin Margot Käßmann: "Wir müssen akzeptieren, dass wir Menschen verletzlich sind."