Psychologe Michael Thiel über kollektive Trauer - und warum depressive Menschen wie Robert Enke zu Höchstleistungen fähig sind.
abendblatt.de: Herr Thiel, Robert Enke litt seit Jahren an Depressionen. Wie konnte er dennoch jedes Wochenende mit tollen Paraden glänzen?
Michael Thiel: Depressive Menschen kommen in vielen Fällen in eine euphorische Phase, sobald sie sich zu einem Suizid entschließen. Es entsteht Freude und Erleichterung. Man merkt ihnen ihre Depression nicht an. Ärzte müssen besonders aufpassen, wenn der Patient in diese Euphorie kommt. Es kann sein, dass sie längst Datum, Uhrzeit und Ort des Suizids geplant haben. So kann es auch bei Robert Enke gewesen sein. Er wirkte gesund und freundlich. Er war engagiert. Er hat sich von seinem Plan nichts anmerken lassen – auch auf dem Fußballplatz.
Hat die Euphorie von seinem Suizid-Plan ihn zu diesen Leistungen im Fußball beflügelt?
Thiel: Das ist eine der Möglichkeiten. Die Last fällt nach einer solchen Entscheidung deutlich von dem Patienten ab. Wichtig ist aber auch: Bei manisch-depressiven Menschen kann der Wechsel in die Manie zu unglaublichen Höchstleistungen befähigen.
IM WORTLAUT: Das sagte Teresa Enke auf der Pressekonferenz
REKONSTRUKTION. So stellt die Polizei die Vorgänge dar.
TRAUER in der virutellen Welt
Vor jedem Spiel?
Thiel: Wenn ein Spieler sich vor dem Spiel pusht und motiviert, dann kann er seine Depressionen zeitweilig verdrängen. Ein Spieler kann sein Gehirn aktiv beeinflussen – und auch dem Gehirn vorgaukeln, dass es sich glücklich fühlt. Sicher hat auch der Adrenalinschub vor Anpfiff die Depression immer wieder beiseite geschoben. Allerdings kann nach einer solchen Euphorie das Abfallen in die Depression umso schlimmer werden. Langfristig war der Fußball aber bestimmt ein wichtiger Ausgleich im Leben von Enke. Ich rate übrigens auch meinen Patienten, in ihrer Freizeit Sport zu machen. Sport hat antidepressive Wirkung.
Warum wählte Enke den öffentlichen Tod, wenn er doch seine Depression geheim halten wollte?
Thiel: Das ist nur schwer zu beantworten. Ein Blick auf die Statistik verrät zunächst einmal, dass Männer oft den gewaltsamen Tod durch Erschießen wählen, von einer Brücke springen oder vor einen Zug. Frauen wählen den leisen Tod. Beispielsweise durch Schlaftabletten.
War sein Tod also keine letzte mediale Inszenierung?
Thiel: Das würde nicht in das Bild von Enke passen, was ich habe. Und es ist sicher auch kein Hilfeappell gewesen. Er war ja nicht allein. Der Plan ist irgendwann bei ihm gereift. Er hat sich dann gesagt: ‚Ich will es nicht mehr aushalten, ich bin eine Belastung.’ Den Tod empfinden Patienten oft als ein Licht am Ende des Tunnels.
Warum geht die Familie unmittelbar nach dem Tod an die Öffentlichkeit?
Thiel: Wahrscheinlich ist für diese Familie der Weg in die Öffentlichkeit gut und klug. Teresa Enke versucht von Beginn an, die Kontrolle über die Situation zu behalten. Sie will aufklären, bevor die Spekulationen weitergehen. Der Auftritt vor den Kameras kann aber auch ein erster Schritt sein, um den Trauerprozess zu beginnen.
Wie geht es jetzt Teresa Enke?
Thiel: Sie wird sich vermutlich die Frage stellen: ‚Habe ich alles richtig gemacht?’. Aber sie könnte auch wütend auf ihren Mann sein – er lässt sie ja jetzt mit dem Kind allein.
Warum trauert die Öffentlichkeit so stark über Enkes Schicksal? Die wenigsten kennen ihn.
Thiel: Robert Enke war ein Sympathieträger. Ein unglaublich netter Mann. Und er hat ein kleines Kind verloren. All das erweckt Mitleid. Sein Schicksal könnte das negative Pendant zu der Euphorie bei der Weltmeisterschaft 2006 sein. Dieses kollektive Trauern ist erleichternd für die Menschen. Sie dürfen jetzt öffentlich weinen. Gerade im ‚Fußball’ dürfen Männer ihre ganze Gefühlspalette zeigen.
Ist es Mitleid mit Enke – oder Mitgefühl?
Thiel: Sicher fragt sich jeder: Wie reagiere ich, wenn ich in dieser Situation stecke. Aber diese Grübeleien verdrängt der Einzelne, weil man ja auch funktionieren muss. Weil man zur Arbeit gehen muss. Dieser Moment der kollektiven Trauer nach Enkes Tod ist aus psychologischer Sicht gesund und wichtig. Bei jedem Einzelnen können die Tränen auch stellvertretend stehen für eine Trauer, die er vorher in anderen Zusammenhängen erlebt hat. Wir wissen: In Tränen stecken antidepressive Substanzen. Anders gesagt: Wer weint, ist zwar völlig ausgelaugt, fühlt sich danach aber besser.
Was sind die Anzeichen für eine Depression?
Thiel: Müdigkeit, Trauer, Appetitlosigkeit können Symptome sein. Entscheidend ist aber, dass sich diese psychischen Zustände über einen Zeitraum von mehreren Wochen nicht verändern. Depressive Menschen sind abends froh, wenn der Tag vorbei ist. Dann kommt die Erleichterung. Und depressive Menschen grübeln extrem viel. Wie wir von seiner Frau wissen, hat auch Robert Enke sich gefragt: ‚Verliere ich meinen Job, wenn ich mich zu meiner Depression bekenne? Werde ich meine Tochter verlieren? Werde ich meine Familie ins Unglück stürzen?’. Aus diesem Grübelkreis kommen depressive Patienten nicht von alleine wieder raus.
War Enkes Suizid auf Bahngleisen nicht auch eine egoistische Handlung? Er zieht Bahnfahrer und Feuerwehrleute mit in sein Schicksal.
Thiel: Ja. Jeder Suizid ist schlimm. Aber etwa einen Autofahrer, einen unschuldigen Menschen da mit einzubeziehen, ist moralisch nicht mehr vertretbar. Das ist der einzige Punkt, bei dem ich richtig sauer werde. Enke hat die Psyche eines unschuldigen Lokführers traumatisiert.
Warum hatte Enke Angst vor einer stationären Behandlung?
Thiel: Das Einweisen in die Psychiatrie heißt in unserer Gesellschaft immer noch: Dieser Mensch hat einen Knall. Wer zum Psychiater geht, kann das noch geheim halten. Eine Einweisung in eine Klinik nicht. Das wird dann als Schwäche gewertet. In der Umkleidekabine wirst du als Profi dann gleich schief angeguckt. Und wenn der Gegner das hört, bekommt der Spieler es auch noch von den Gegenspielern auf dem Platz zu hören.
Und bei der Einkaufspolitik der Vereine spielt das sicher auch eine Rolle.
Thiel: Depression ist karriereschädigend, wenn sich ein Spieler offen dazu bekennt. Sein Marktwert sinkt, wenn der Arbeitgeber weiß, der Spieler könnte ausfallen oder ist nicht belastbar.
Michael Thiel ist Diplompsychologe. Seit mehr als 15 Jahren ist er Psychologischer Experte für Presse, Funk und Fernsehen. Michael Thiel im Internet