Künstliche Befruchtung boomt. Jeder zehnte Mann leidet bereits unter Fortpflanzungsstörungen. 1181 Gene wirken bei Hoden-Erkrankungen mit.
Ungewollt kinderlos - das Schicksal trifft inzwischen jedes siebte Paar in Deutschland. In jedem zweiten Fall liegt die Ursache dafür in der Unfruchtbarkeit des Mannes. Jetzt gibt es neue Therapieansätze, entwickelt von Medizinern des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).
"Seit einem Jahr behandle ich Männer mit schweren Fruchtbarkeitsstörungen, die gar keine Spermien mehr bilden können, mit einer Therapie, die eigentlich gegen Entzündungen wirkt", sagt Prof. Wolfgang Schulze, Chef der Abteilung für Andrologie (Männerheilkunde), dem Abendblatt. Konkret verabreicht der Mediziner seinen Patienten Omega-3-Fettsäuren und - niedrig dosiert - den Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS). Acht Männer hat er über ein Jahr lang behandelt. "In jedem Fall gelang es, die Spermienproduktion wieder zu aktivieren. Ein Mann zeugte sogar ein Kind ohne die Hilfe der künstlichen Befruchtung."
Schon länger hatte der Androloge, der seit gut 20 Jahren die Unfruchtbarkeit des Mannes erforscht und behandelt, die Vermutung, dass eine (Auto-)Immunerkrankung die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Er hatte beobachtet, dass als Nebeneffekt einer Behandlung beispielsweise gegen eine chronisch- entzündliche Darmerkrankung, den Morbus Crohn, sich der Fertilitätsstatus verbesserte.
Die Vermutung wurde zur Gewissheit, "nachdem wir vor drei Jahren mit einem speziellen Verfahren, der sogenannten Microarray-Technologie, begannen, das Zusammenspiel der Gene im Hodengewebe zu analysieren", sagt der Anatom, der die Ergebnisse mit einigen Kollegen in "Human Reproduction" (Vol. 22, Nr. 11) veröffentlichte und einmal mehr belegte, dass die Abteilung für Andrologie eine der Keimzellen der modernen Fortpflanzungsmedizin ist.
1181 Gene spielen bei den unterschiedlichen Erkrankungen des Hodengewebes eine Rolle - 160 davon waren immer dann besonders aktiv, wenn eine schwere Fruchtbarkeitsstörung vorlag. "Und diese Gene gehören alle zu den Genen, die mit dem Immunsystem, mit Entzündungen zu tun haben. Erstmals seit Jahren haben wir damit einen Ansatz, um die männliche Unfruchtbarkeit ursächlich zu behandeln. Damit kommen wir unserem Ziel, die Belastungen für Frauen infolge einer künstlichen Befruchtung zu vermindern und den Männern die Zeugungsfähigkeit zurückzugeben, einen Schritt näher."
Eine ursächliche Behandlung gelingt sonst nur noch bei den Männern, die infolge einer Hormonstörung unfruchtbar sind. Aber das trifft nur auf fünf Prozent aller Patienten zu. "In den meisten Fällen sind uns somit die Hände gebunden. Bei 30 Prozent der Patienten können wir nicht einmal eine organische Ursache feststellen. Das ist der Grund für den Siegeszug der künstlichen Befruchtung", folgert Prof. Schulze. Wobei er selber dazu beigetragen hat. Denn das weltweit erste Baby mit Spermien aus dem Hodengewebe, das nach einer operativen Entnahme eingefroren worden war, kam 1996 auch mit seiner Hilfe in Hamburg zur Welt. Das war die Geburtsstunde der aufwendigsten Technik der Fortpflanzungsmedizin, der TESE/ICSI-Behandlung.
Prof. Schulze geht davon aus, dass eine Therapie gegen Entzündungen auch Männern helfen könnte, deren Zeugungsfähigkeit nicht so stark eingeschränkt ist. Doch noch liegen dazu keine Erkenntnisse vor. Dabei wächst die Herausforderung. Bereits jetzt leidet etwa jeder zehnte Mann an einer Fortpflanzungsstörung. Die Auswertung der 100.000 Spermiogramme, die am UKE seit 1956 erstellt wurden, legt nämlich den Schluss nahe, dass die Spermienqualität abgenommen hat. "Zumindest bei den Männern, bei denen wir die Anzahl, die Beweglichkeit und das Aussehen der Spermien begutachten."
Über die Ursachen wird nach wie vor spekuliert. Möglicherweise kann das Rauchen während der Schwangerschaft die Zeugungsfähigkeit des männlichen Embryos beeinträchtigen, vielleicht leidet er auch unter hormonellen Substanzen, die inzwischen in der Umwelt weit verbreitet sind. "Die Spermienproduktion ist ein hochkomplexes Geschehen, in dem unzählige Faktoren eine Rolle spielen, die wir längst noch nicht alle kennen", erläutert Prof. Schulze. "Nur wenn sie richtig zusammenwirken, entsteht, salopp gesagt, ein flottes Taxi für genetisches Material. Denn Spermien sind die einzigen menschlichen Zellformen, die programmiert sind, den Körper des Erzeugers zu verlassen und ihre Wirkung in einem anderen Körper zu entfalten." Wie das Taxi gegen Störungen verbessert werden kann, daran werden die Andrologen am UKE auch weiterhin forschen.