Forscher entdeckten mittels einer Genstudie eine wissenschaftliche Sensation: Der moderne Mensch stammt auch vom Neandertaler ab.
Leipzig. Er ist ein Weltstar - und dies seit mehr als 150 Jahren. Der ganze Globus kennt seinen Namen und sein gewöhnungsbedürftiges Gesicht, und natürlich ist selbiges heute auch auf Facebook zu finden. Nur mit dem Image hatte er immer ein Problem, der Neandertaler. Generationen von Schülern und Studenten haben gelernt, dass dieser Verwandte des modernen Menschen mit Recht ausgestorben sei: Viel zu tumb zum Überleben sei er gewesen, dieser paläolithische Flachschädel mit muskelstrotzendem Schwarzenegger-Körper und dicken Augenwülsten. Eben ein richtiger Neandertaler - ganz so, als hätte die Evolution bedauernd mit den Achseln gezuckt und gesagt: Entschuldigung. War ja nur so eine Idee.
Doch mit jedem neuen Vorstoß in der anthropologischen Forschung wächst die Überzeugung, dass diese Idee von Mutter Natur sogar ziemlich brillant war. Und neuerdings haben wir es gar schwarz auf weiß, dass der Neandertaler zu unseren Vorfahren gehört.
Forscher des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig unter Leitung ihres prominenten schwedischen Direktors Svante Pääbo ermittelten in einer weltweit einzigartig aufwendigen Analyse, dass die heutige Bevölkerung in Europa und Asien ein bis vier Prozent Neandertaler-Gene aufweist. Das ist eine sensationelle Erkenntnis, die eine ganze Trutzburg aus bisherigen Lehrsätzen schleift.
Bislang galt: Neandertaler und Homo sapiens sapiens haben sich zwar beide aus dem Homo heidelbergensis entwickelt, dessen Vorfahr wiederum der Homo erectus war. Vermutlich gab es erste Formen des Neandertalers schon vor 300 000 Jahren, er verschwand dann von der Weltbühne vor etwa 30.000 Jahren. Den modernen Menschen gibt es seit rund 200. 000 Jahren - und beide Menschenformen lebten für Tausende von Jahren in denselben Weltregionen nebeneinander.
Natürlich kam immer mal der eine oder andere Forscher auf den doch naheliegenden Gedanken, die beiden hätten sich am Lagerfeuer auf das Zutraulichste annähern und gemeinsame Kinder zeugen können. Lange verwarf die Wissenschaft diese unerhörte Theorie, der elegante europäische Cro-Magnon-Urmensch könne sich mit dem als affenartig geschilderten Neandertaler gepaart haben. Genetisch fanden sich dafür auch lange Zeit keine Beweise.
Zudem wurden uncharmante Vergleiche bemüht; auf Paarungen wie jene zwischen Pferd und Esel hingewiesen, deren Resultat, Maulesel, schließlich auch unfruchtbar seien.
Dann zerbröckelte zuerst das Bild des Neandertalers als tumber Tor, der sein Weib grunzend mit der Keule freit. Inzwischen weiß man, er baute Hütten, hütete das Feuer, fertigte Werkzeuge, Waffen und Steinklingen an, war ein geschickter Jäger und legte sogar Begräbnisstätten an, was auf hoch entwickelte soziale Fähigkeiten schließen lässt. Ob er gut sprach, wissen wir nicht, physische Voraussetzungen dafür hatte er jedenfalls. So besaß er das Sprach-Gen FOXP2, das gern für politisch unkorrekte Frauenwitze strapaziert wird. Heute ist auch klar, dass der Neandertaler keineswegs in gebeugter Haltung daherschlurfte wie häufig dargestellt; entsprechend deformierte Skelettfunde werden inzwischen als Beweis für schwere Erkrankungen gewertet.
Der Leiter des aufsehenerregenden Gen-Projekts, Svante Pääbo, Sohn des Nobelpreisträgers Sune Bergström, ist weltweit einer der führender Forscher auf diesem Gebiet, er gilt als Begründer der Paläogenetik. "Ich war total überrascht von dem Ergebnis und war zunächst sehr abgeneigt, es überhaupt zu glauben", sagte Pääbo gestern Nachmittag telefonisch dem Hamburger Abendblatt aus Tennessee in den USA. Dort und anschließend bei einem großen Wissenschaftskongress in New York stellt er die sensationelle Leipziger Studie vor. "Was uns so sehr überrascht hat, ist, dass sich dieser genetische Beitrag des Neandertalers nicht nur in Europa findet, wo er gelebt hat, sondern in China und in Papua-Neuguinea, wo es niemals Neandertaler gegeben hat."
Der Professor nimmt an, dass die fruchtbare Begegnung zu dem Zeitpunkt stattgefunden hat, als der moderne Mensch zum ersten Mal Afrika verlassen hatte und im Nahen Osten auf den Neandertaler traf, der bereits dort lebte. Das wäre also vor rund 80.000 bis 100.000 Jahren gewesen. 30.000 Jahre lang lebten dort beide neben- und vielleicht gar miteinander. Ihre Nachkommen wurden dann zu den Vorfahren aller Nicht-Afrikaner. Denn die Neandertaler-DNS findet sich nicht in Afrika südlich der Sahara - die Cro-Magnon-Menschen konnten das gewaltige Sandmeer nicht überqueren.
Svante Pääbo, dem bereits zur Doktorandenzeit als erstem Wissenschaftler die Klonierung der DNA einer Mumie gelungen war, schließt nicht aus, dass sich moderne Menschen und Neandertaler auch noch später in Europa gepaart haben, wo sie ebenfalls Jahrtausende gleichzeitig lebten. "Der Durchbruch, den wir geschafft haben, ist, zu zeigen, dass es biologisch möglich ist", sagt der Schwede. "Sie konnten zusammen Nachkommen haben und konnten beitragen zu unserem Genpool. Und wenn das einmal passiert ist, dann halte ich es nicht für unwahrscheinlich, dass diese Vermischung auch noch anderswo passiert ist - dass dies aber nicht mehr so starke Spuren in unserem Genom hinterlassen hat." So könnte es sein, dass es damals bereits schon viele moderne Menschen in Europa gab - sodass der Anteil an Neandertaler-Genen aufgrund des Zahlenverhältnisses entsprechend gering ausgefallen wäre.
Die Forschungsergebnisse aus Leipzig werden nach Pääbos Auskunft jetzt dazu benutzt, weitere Hinweise darauf zu finden, warum sich der Homo sapiens sapiens dann so ganz anders entwickelt hat als der Neandertaler.
Der Ur-Neandertaler aus dem gleichnamigen Tal bei Düsseldorf hat seine vorläufig letzte Ruhestätte im LVR-LandesMuseum Bonn gefunden.
Leiter der dortigen Abteilung Vorgeschichte und auch der Forschungsstelle Neandertaler ist der Prähistoriker und Dozent Dr. Ralf W. Schmitz. Seit 1997 arbeitet der renommierte Neandertaler-Experte mit Svante Pääbo bei genetischen Analysen zusammen; "sein" Ur-Skelett aus dem Museum wurde auch bei der Analyse der Kern-DNS hinzugezogen. Es wurden mehrere Neandertaler-Skelette untersucht, neben dem aus Bonn auch aus Kroatien, Spanien und dem Kaukasus. Sie wurden verglichen mit dem Erbgut von fünf heutigen Menschen aus diversen Erdteilen, gewonnen aus Blutproben.
Schmitz ist überzeugt von den Leipziger Befunden. "Aufgrund der bisherigen genetischen Analyse dachte man eben, der Neandertaler hätte keine Gene zu uns beigetragen und sei damit nicht unser Vorfahr - und das sieht nun ganz anders aus", sagte Schmitz zum Hamburger Abendblatt. Der ein- bis vierprozentige Gen-Anteil zeige: "Das spricht ganz klar für eine Vermischung von Neandertaler und modernem Menschen. Damit sind die Neandertaler doch ein Stück weit unsere Vorfahren. Sie sind keine erloschene Seitenlinie, sondern in unserem Genpool aufgesogen worden." Und das habe dann schon gravierende Konsequenzen für die Sicht auf den Neandertaler.
Jetzt könne er vor dem Original-Skelett stehen und Besuchergruppen erklären: "Da liegt unser Urahn, der sich viele Zehntausende Jahre erfolgreich in Europa behauptet hat und später in uns aufgegangen ist." Schmitz betont: "Wenn wir miteinander Nachwuchs haben konnten, dann gehören wir biologisch auch derselben Art an. Die Neandertaler waren hochintelligente Jäger und Sammler, die uns in keiner Weise nachstanden."
Der Grund, warum der Neandertaler dann doch verschwand, liege vielleicht darin, dass es damals bereits eine sehr viel größere Anzahl an modernen Menschen gab, die ihre Verwandten dann einfach verdrängten. Einige Forscher glauben, es habe in Europa zu dieser Zeit rund 30.000 Neandertaler gegeben, andere meinen jedoch, es seien allenfalls 10 000 gewesen. Manche Wissenschaftler sagen auch, eine Neandertaler-Frau habe nur alle vier Jahre ein Kind bekommen können.
Die These, die Neandertaler seien ausgestorben, weil sie mit der Eiszeit nicht klargekommen seien, weist Schmitz zurück. Zum einen seien die Neandertaler sehr erfolgreiche Jäger und Fallensteller gewesen, und zum anderen habe es zwar kühle Phasen, aber nicht durchgehend extreme Kältezeiten gegeben. Die großen Grassteppen seien meist voller Tierherden gewesen, der Tisch reich gedeckt. "Es war kein schlechtes Leben zu dieser Zeit. Darin sehe ich nicht die Ursache für das Aussterben der Neandertaler." Dafür sei wohl eher ein Faktoren-Mosaik verantwortlich gewesen - "Abdrängen in schlechtere Jagdgründe, gelegentliche gewalttätige Konflikte, aber vielleicht auch ein Einschleppen von Krankheiten, die das Immunsystem der Neandertaler nicht kannte. Wir haben die Neandertaler genetisch einfach aufgesogen und ihre Gene dann über die ganze Welt mitgenommen."
30.000 Jahre nach seinem vermeintlichen Aussterben lebt der Neandertaler nun also wieder - in uns allen.