Zehn-Jahres-Studie in Hamburg präsentiert: Kinderärzte konstatieren deutliche Verschlechterung der Gesundheit von Mädchen und Jungen.

Hamburg. Übergewicht, Psychische Probleme, Verhaltensauffälligkeiten: Die Gesundheit von Mädchen und Jungen in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren schlechter geworden, sagen Kinderärzte. Vor allem Grundschüler zwischen sechs und acht Jahren sind nach Einschätzung der Mediziner betroffen, wie die Krankenkasse DAK in Hamburg bekannt gab. Im Auftrag der Kasse hat das Forsa-Institut im April bundesweit 100 Kinder- und Jugendärzte befragt.

Ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel und zu viel Zeit vor Fernseher und Computer sehen die Mediziner als größte Gefahren für die Gesundheit der Kinder. Auch eine fehlende Vorbildfunktion der Eltern stuften sie sehr häufig als Risikofaktor ein, heißt es in der DAK-Studie. Und 61 Prozent der Ärzte nannten zu wenig oder schlechten Sportunterricht an Schulen.

„Die Einschätzung der Kinderärzte ist alarmierend“, sagte Christina Sewekow von der DAK. „Die Gesundheitserziehung unserer Kinder muss in Deutschland ein stärkeres Gewicht bekommen.“

Mehr als die Hälfte der Mediziner erklärte, dass sich der Gesundheitszustand der Kinder seit dem Jahr 2000 eher (51 Prozent) oder deutlich (4 Prozent) verschlechtert habe. „Mit 97 Prozent stellen fast alle befragten Kinderärzte fest, dass vor allem psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten zugenommen haben“, hieß es. 55 Prozent sehen hier sogar einen „starken“ Anstieg.

Gerade bei Grundschülern zwischen sechs und acht Jahren treten viele Gesundheitsprobleme durch Übergewicht auf, sagten die Mediziner. „95 Prozent der Kinderärzte stellen hier eine Zunahme fest.“ Auch motorische Defizite sowie Sprach- und Hörprobleme hätten zugenommen – diese Diagnosen würden am häufigsten bei den Drei- bis Fünfjährigen gestellt.

Das Konzept der Früherkennung müsse dringend überprüft und notfalls überarbeitet werden, forderte Sewekow. Es gehe aber nicht darum, die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen auszuweiten, sondern darum, bei den Untersuchungen einzelne Probleme wie Übergewicht in den Mittelpunkt zu rücken. „Wichtig ist auch, Eltern und Schule mehr einzubinden.“

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hatte kürzlich ebenfalls eine Reform der Vorsorgeuntersuchungen vom Kleinkind- bis ins Jugendalter gefordert. Wenn Kinder heute in eine Arztpraxis kommen, gebe es andere Probleme als vor 40 Jahren, hatte der Verband erklärt.

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Fettleibigkeit wird weltweit zur Volkskrankheit

Die Zahlen sind alarmierend: Allein in der Bundesrepublik trugen zuletzt 60 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen zu viele Kilos mit sich herum. Rund jeder sechste Deutsche galt sogar als krankhaft fettleibig. In Europa wird Deutschland damit nur noch von wenigen Ländern wie Großbritannien, Spanien und Griechenland übertroffen. Weltweit Spitzenreiter sind - wenig überraschend - die Fast-Food-Länder USA und Mexiko. Dort waren zuletzt zwei von drei Menschen übergewichtig, rund jeder Dritte wurde als fettleibig eingestuft.

Fettleibigkeit nimmt in immer mehr Ländern das Ausmaß einer Volkskrankheit an. In den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist bereits jeder zweite Bürger übergewichtig. Das zeigt eine am Donnerstag in Paris veröffentlichte Untersuchung.

Vor 1980 war das Problem kaum bekannt. Damals habe der Anteil der krankhaft dicken Menschen in den meisten Ländern noch deutlich unter zehn Prozent gelegen, schreiben OECD-Experten. Als Ursache für die Entwicklung nennen sie veränderte Lebensgewohnheiten. Zu viel Fett, zu viel Süßes, zu viel Stress und zu wenig Bewegung lautet die ungesunde Mischung, die über das Übergewicht auch zu Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs führen kann.

"Die Zahl der körperlichen Beschwerden und Krankheiten, die durch Übergewicht ausgelöst werden können, ist hoch", sagt Dr. Beate Herbig, Fachärztin für Allgemeinmedizin vom Adipositas-Programm am Krankenhaus Alten Eichen in Hamburg. "Ein Mensch, der einen Body-Mass-Index von 40 hat und 30 Jahre alt ist, hat im Durchschnitt eine zehn bis 14 Jahre kürzere Lebenserwartung."

Besonders traurig stimmt die Forscher, dass auch sehr junge Menschen von der Entwicklung betroffen sind. Schon jetzt sitzt auf jeder dritten Kinderhüfte in den OECD-Ländern zu viel Fett. Hierbei sehen Ärzte neben der falschen Ernährung besonders auch die mangelnde Bewegung als Problem. "Die Frage nach der körperlichen Aktivität beginnt damit, wie Kinder täglich zur Schule kommen", sagt Joachim Westenhöfer, Professor für Ernährungs- und Gesundheitspsychologie von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. "Das setzt sich bei Erwachsenen mit dem Weg zur Arbeit fort. Früher hat die körperliche Bewegung auch im Beruf eine viel wichtigere Rolle gespielt."

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Im Umgang mit dem "Dicken-Problem" fordern die OECD-Experten nun ein gemeinsames Vorgehen von Regierungen und Wirtschaft. Schon mit relativ wenig Aufwand könnte ihrer Ansicht nach viel Gutes getan werden - beispielsweise mit einer besseren Beratung durch Hausärzte oder besseren Informationen zu Nahrungsmitteln. "Problematisch ist der generelle Trend, dass Lebensmittel immer schneller, billiger und einfacher zu haben sind, während der Konsum durch die Werbung ununterbrochen angeheizt wird", sagt Westenhöfer. Man müsse insgesamt unterschiedliche Ziele verfolgen, fordert er: "Zum Beispiel das einer vernünftigen Gesundheitserziehung in den Schulen. Hausärzte sollten schneller auf Risiken hinweisen und früher eingreifen. Außerdem sollte man sich auch politische Fragen stellen: Müssen Zuckerprodukte tatsächlich von dem europäischen Agrar-Fond gefördert werden?"

Anreiz für eine gesunde Ernährung könnten aber auch ganze simple Zahlen bieten: Der OECD-Studie zufolge verdienen krankhaft dicke Menschen bis zu 18 Prozent weniger als andere.

Die Versicherer halten es unterdessen sogar für möglich, dass die Zunahme der Fettleibigkeit eines Tages den Trend zur Langlebigkeit stoppen könnte. "Wir müssen das Undenkbare bis zu einem Extremszenario denken und dann natürlich versuchen, diese Risiken einzuschätzen", heißt es in der Branche. Was die "Sucht" nach der Aufnahme von Süßem und Fettigem ausmacht, und warum der davon ausgehende Reiz auch körperlich hoch ist, weiß Beate Herbig: "Im Gehirn werden beim Konsum von Zucker und Fett dieselben Areale aktiviert, die auch bei Kokain aktiviert werden".

Das Fazit der OECD: "Der Anteil übergewichtiger Menschen wird sich in einigen Ländern in der kommenden Dekade voraussichtlich noch weiter um ein Prozent jährlich erhöhen."