Berlin. Wie wichtig ist Oxytocin für die Liebe und das Wohlbefinden? Ein Bindungsforscher klärt auf und bewertet den Nutzen von Hormon-Sprays.

  • Mit viel Kommunikation kann man enge Liebesbeziehungen aufbauen
  • Andere Menschen setzen eher auf „Liebessprays“
  • Kann das darin enthaltene „Kuschelhormon“ wirklich die Bindung stärken?

Es ist vielen unter dem schön klingenden Namen „Kuschelhormon“, „Liebeshormon“ oder auch „Bindungshormon“ bekannt: Oxytocin. Doch was genau steckt dahinter? Welche Bedeutung hat es für uns im Alltag? Für Vertrauen, Beziehungen, Wohlbefinden?

Dirk Scheele, Professor für Social Neuroscience an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, hat sich der Sozialen Bindungsforschung verschrieben – Schwerpunkt Oxytocin. Im Interview erklärt er unter anderem, ob frei verkäufliche Oxytocin-Sprays wirklich nutzen.

Herr Scheele, was genau ist Oxytocin?

Dirk Scheele: Oxytocin ist ein Hormon und Neurotransmitter. Es wird in unserem Gehirn – genauer gesagt in den Unterregionen des Hypothalamus – produziert und dann in die Hirnanhangdrüse, die Hypophyse, weitergeleitet. Dort wird es gespeichert und bei Bedarf freigesetzt. Über den Blutkreislauf gelangt es schließlich in den gesamten Körper.

Was löst die Freisetzung aus?

Scheele: Die Freisetzung wird durch ganz verschiedene Faktoren beeinflusst. Oxytocin gelangt etwa bei angenehmer körperlicher Berührung in unseren Körper, bei positiver sozialer Interaktion, aber auch durch Stress und bei Frauen während des Geburtsprozesses und beim Stillen. Allerdings sind die genauen Vorgänge hochkomplex und noch nicht bis ins Detail erforscht. Fest steht: Damit wir uns gut fühlen, muss die individuelle, persönliche Zusammensetzung aller Hormone und Neurotransmitter stimmen.

Bindungsforscher Dirk Scheele, Professor für Social Neuroscience an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Bindungsforscher Dirk Scheele, Professor für Social Neuroscience an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. © RUB, Marquard | RUB, Marquard

Was halten Sie von Umschreibungen wie „Kuschelhormon“?

Scheele: Diese haben in Teilen ihre Berechtigung, greifen aber insbesondere beim „Kuschel-“ oder „Liebeshormon“ zu kurz. Schließlich kann Oxytocin auch negative psychologische Effekte auslösen. Und dieser Aspekt etwa wird hier völlig ausgeklammert.

Negative Effekte von Oxytocin sind vielen gar nicht bewusst. Welche sind das?

Scheele: In den letzten zehn Jahren konnten mehrere Studien nicht nur pro-, sondern auch antisoziale Wirkungen zeigen. Es verstärkt etwa Neid und Schadenfreude sowie offenbar ebenso die Tendenz, die eigene soziale Gruppe als überlegen gegenüber Fremden anzusehen. Darüber hinaus konnten sowohl Tier- als auch Humanstudien nicht nur Angst mildernde, sondern auch Angst steigernde Effekte feststellen. Ob sich Oxytocin am Ende negativ oder positiv auswirkt, hängt wiederum von sehr vielen Variablen ab.

Was bedeutet das für unser Zusammenleben?

Scheele: Vereinfacht kann man sagen, dass Oxytocin in stressigen, negativen Situationen eher in dieselbe Kerbe schlägt und in positiven Situationen, in denen wir uns wohl und geborgen fühlen, ebenso eher verstärkend wirkt. Das haben auch unsere Experimente gezeigt. Hatten Probanden in stressigen Situationen aber zum Beispiel soziale Unterstützung, linderte Oxytocin den Stress, wirkte sich also plötzlich doch positiv aus. Ich finde, das ist eine wichtige Botschaft für den Umgang miteinander.

Präriewühlmäuse können laut einer neuen Studie offenbar auch ganz ohne Oxytocin enge Beziehungen aufbauen. Wurde das Hormon bislang überschätzt?

Scheele: Das sehe ich nicht so. Die Studie von US-Forschern, die Anfang des Jahres im Fachmagazin „Neuron“ veröffentlicht wurde, hat den Blick auf Oxytocin nicht grundlegend verändert. Auch wenn manche Medien diesen Eindruck vermittelt haben. Dass Bindung nicht allein auf Oxytocin zurückgeführt werden kann, haben wir in unseren Artikeln schon immer versucht herauszustellen. Wie gesagt: Bindung ist ein hochkomplexes psychologisches Konstrukt mit zahlreichen Facetten, bei dem eine ganze Kaskade an Neurotransmittern und Hormonsystemen involviert ist – bei Menschen spielen etwa Serotonin oder auch das Geschlechtshormon Östrogen eine wichtige Rolle.

Beziehung: Umarmungen unterstützen die psychische Gesundheit

Wie gut sind unsere Kompensationsmöglichkeiten bei einem Oxytocin-Mangel?

Scheele: Insgesamt ist die Studienlage mit Blick auf die psychologischen Effekte von Oxytocin noch sehr unbefriedigend, da sehr heterogen, sprich uneinheitlich oder gar widersprüchlich. Wir sind uns aber recht sicher, dass wir durch Berührungen und Umarmungen das persönliche Wohlbefinden und wohl auch die Oxytocin-Produktion steigern können. Sich gegenseitig zu berühren, ist enorm wichtig, auch für die psychische Gesundheit – das haben auch Erhebungen während und nach der Corona-Pandemie gezeigt.

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    Aktuell arbeiten nicht nur Sie daran, die Therapie psychischer Erkrankungen durch die Gabe von Oxytocin perspektivisch zu unterstützen.

    Scheele: Genau. Aber das ist Zukunftsmusik. Das erste Ziel wäre ein Goldstandard über die Art der Messung des Oxytocinspiegels sowie Einigkeit darüber, was nach der Gabe von Oxytocin erwartbar je nach Situation passiert. All das ist aktuell noch nicht sicher etabliert. Was uns aber optimistisch stimmt: Erste noch unveröffentlichte Befunde aus einer neuen Studie weisen darauf hin, dass Oxytocin die unmittelbare Wirkung einer Gruppentherapie gegen Einsamkeit verstärken könnte. So fühlten sich die Teilnehmer etwa stärker verbunden. Das könnte künftig helfen, in Therapiesitzungen schneller voranzukommen.

    Sich mit anderen verbundener fühlen, das wünschen sich vermutlich einige – auch ohne Erkrankung.

    Scheele: Das mag sein, aber ich kann nur eindringlich warnen. Niemand mit Beziehungs- oder Bindungsproblemen sollte versuchen, sich, indem er oder sie Oxytocin einnimmt, selbst zu helfen. Das kann – nicht nur mit Blick auf mögliche Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen – leicht nach hinten losgehen.

    Inwiefern?

    Scheele: Für die psychologische Nutzung von Oxytocin gibt es schlicht noch zu wenige klinische Studien. Wie gesagt: Noch befinden wir uns hier im Bereich der Grundlagenforschung. Klar wissen wir, dass Oxytocin positive Effekte haben könnte. Wir wissen aber auch, dass sehr viele Faktoren, die Wirkung beeinflussen – auch negativ. Zugelassen ist es bislang nur im Kontext der Geburt und um Frauen mit Stillproblemen zu unterstützen. Und auch dann sollte eine Anwendung nur in enger Absprache mit Ärzten erfolgen.

    Nichtsdestotrotz gibt es Anbieter, die Oxytocin schon heute rezeptfrei im Netz verkaufen.

    Scheele: Daher warne ich vor der selbstständigen Nutzung auch so eindringlich. Wir wissen nicht, was in diesen Präparaten alles drinsteckt, die gerne als „Liebesspray“ oder auch „Treuespray“ beworben werden. Das sind hoch unseriöse Angebote. Außerdem bietet die Einnahme von Oxytocin sicherlich keine einfache Lösung für komplexe zwischenmenschliche Beziehungen – auch wenn sich das der ein oder andere sicherlich wünschen würde. Diese bedeuten immer viel Arbeit. Bei Problemen rate ich, sich professionelle Hilfe zu suchen – zum Beispiel bei Paartherapeuten oder einer Eheberatung.