Berlin. Fahren, radeln, gehen nur noch mit Handy-Navigation: Viele Menschen sehen die Welt durch den Routenplaner – das hat Folgen fürs Gehirn.
Statt nach Bernau am Chiemsee im bayerischen Voralpenland fährt ein Rentner nach Bernau bei Berlin. Zwischen tatsächlicher Ankunft und gewünschtem Ziel liegen etwas mehr als 700 Kilometer. Oder ein Laster landet nach dem Abbiegen fast in einem Fluss – genau an der Stelle, an der einst eine kleine Fähre Autos von einem Ufer zum anderen schipperte. Weil sie irgendwann zu selten genutzt wurde, wurde der Fährbetrieb eingestellt.
Meldungen wie diese sind keine Seltenheit. Und wer ist schuld daran? Das Navi.
Gehirn kann Orientierung im Raum verlernen
Warum manchen Menschen Fahrten ins falsche Bernau erst viel zu spät auffallen, hat auch mit dem menschlichen Gehirn zu tun. Das kann – da sind sich Hirnforscherinnen und -forscher einig – verlernen, sich im Raum zu orientieren. Und zwar dann, wenn es diese Aufgabe zu oft an Hilfsgeräte wie Smartphone oder Navi abgibt.
Für die räumliche Orientierung sind neben Gleichgewichts- und Sehsinn mentale Karten im menschlichen Hirn entscheidend: ein engmaschiges Netz aus sogenannten Orts- und Rasterzellen im Hippocampus und einer benachbarten Hirnregion. Sie sind unser Arbeitsspeicher im Kopf und Vermittlungsstelle zwischen Lang- und Kurzzeitgedächtnis.
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Rasterzellen: So findet sich unser Hirn ohne Handy zurecht
Jeden Ort verknüpft das menschliche Hirn mit einer Ortszelle. Diese Ortszelle feuert ein bestimmtes elektrisches Signal ab, sobald wir uns an ebendiesem Ort befinden. Die Rasterzellen legen sich als eine Art Gitternetz über die uns bekannten Orte und damit die Ortszellen. Dazu markieren sie markante Gebäude oder andere Punkte, die einem sofort ins Auge fallen als Wegmarken – Kirchtürme zum Beispiel, Parks, Geschäfte oder Sehenswürdigkeiten.
Rasterzellen sagen dem Hirn, wie der momentane Standort, den die Ortszellen melden, mit der Umgebung zusammenhängt. Sie geben also den räumlichen Kontext. So entsteht eine mentale Karte – ein Kompass im Kopf: Wir sehen die Stadt, den Ort, die Reiseroute vor unserem inneren Auge. Wollen wir beispielsweise von unserem Zuhause aus zum Lieblingsbäcker, informieren die Ortszellen die Rasterzellen, wo wir uns gerade befinden. Die Rasterzellen zeigen den kürzesten Weg zum Ziel.
Wir lagern Navigationsarbeit aus – in den Routenplaner
Lagern Menschen diese Navigationsarbeit an Geräte aus, vernetzen sich Orts- und Rasterzellen nicht mehr, und das Gehirn entwickelt keine mentalen Karten der Umgebung mehr. Vergleichbarer Effekt: Seitdem es Taschenrechner gibt, ist das Kopfrechnen bei einigen Menschen aus der Mode gekommen.
Bildungspsychologe Stefan Münzer hat dieses Verhalten bereits 2007 mit einem wissenschaftlichen Experiment belegt: Er ließ zwei Probandengruppen durch den Saarbrücker Zoo laufen – eine davon mit Navi, die andere mit einem Kartenausschnitt auf Papier. Danach zeigte Münzer beiden Gruppen unabhängig voneinander Fotos von Kreuzungen, die sie den richtigen Stellen auf der Karte zuordnen sollten.
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Papier-Karte trainiert Hirn besser als Google Maps und Co.
Diejenigen, die lediglich mit einem Kartenausschnitt unterwegs waren, schnitten dabei deutlich besser ab. Der Grund, so Münzer: Orientieren Menschen sich mit Straßenkarten in der Hand, müssen sie die nach Norden ausgerichtete Karte erst mit der eigenen Position und Blickrichtung abgleichen – das ist aufwendig und geht nicht ohne mentale Karte. Das Netz aus Orts- und Rasterzellen im Hirn werde also ordentlich in Anspruch genommen – trainiert gewissermaßen.
Studien mit Taxifahrern zeigen diesen Effekt noch besser: Forschende des University College London hatten 39 Fahrer vor und nach deren Ausbildung untersucht, in der sie 25.000 Straßen und ihren Verlauf auswendig lernen mussten. Sie stellten nach der Ausbildung mehr graue Substanz im Hippocampus fest – ein deutliches Zeichen für ein sehr aktives und großes Netz aus Orts- und Rasterzellen.
Andere Studien arbeiteten mit pensionierten Taxifahrern. Bei ihnen fanden sie weniger graue Masse in der Hirnregion, was den Autoren zufolge bewies: Wird das mühsam aufgebaute Netz aus Orts- und Rasterzellen nicht genutzt, bildet sich die mentale Karte zurück.
Neue Navigationssysteme fördern natürlichen Orientierungssinn
„Die vorherrschenden Navigationsanwendungen verwenden einen sogenannten Turn-by-Turn-Anweisungsansatz und werden meist von Geräten mit kleinen Bildschirmen unterstützt“, erklären Forschende um Professorin Angela Schwering von der Universität zu Münster.
„Diese Kombination trägt wenig dazu bei, die Orientierung der Benutzer oder den Erwerb räumlichen Wissens zu verbessern.“ Deshalb forschen sie als Geo-Informatiker, Geografen und Psychologen an einer neuen Generation von Navigationsgeräten. Diese orientieren sich bei den Ansagen daran, wie Menschen antworten, wenn man sie nach einem Weg fragt.
Wie vom Menschen gezeichnet: Navi der Zukunft
Statt „In 500 Metern biegen Sie links ab“ heißt es dabei etwa „Nach der zweiten Ampel biegen Sie links ab“. Außerdem arbeiten die Forscherinnen und Forscher mit einer minimalistischeren Karte, wie Menschen sie zeichnen würden, wenn sie eine Route skizzieren: Lange Straßen, die zur Navigation nichts Relevantes beitragen, werden verkürzt dargestellt – vergleichbar mit einem U-Bahn-Plan, der auch nicht maßstabsgetreu den genauen Fahrtverlauf widerspiegelt.
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An den Herstellern von Navi-Geräten und -Software sind diese Ansätze nicht gänzlich vorübergezogen: Garmin-Geräte mit der Funktion „Real Directions“ etwa versuchen sich schon an Fahranweisungen, die den menschlichen Orientierungssinn fördern. Bei ihnen heißt es nicht mehr „In 500 Metern rechts auf die Hauptstraße abbiegen“, sondern zumindest schon „In 500 Metern vor der Ampel rechts abbiegen“. Von Anweisungen wie „Nach dem Kirchturm rechts“ sind sie aber noch weit entfernt.
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