Berlin. In der Pandemie erlebt das Spazieren einen Boom. Und wissenschaftliche Studien zeigen: Das Schlendern beugt nicht nur Krankheiten vor.
Will man verstehen, womit sich Bertram Weisshaar am liebste beschäftigt, trifft man ihn am besten vor seiner Haustür. Man läuft mit ihm einige Schritte die Seitenstraße hinunter, überquert den Stadtring und schon ist man im Park, hier im Zentrum von Leipzig, umgeben von Linden, Krähen, dem Wind.
„Bereits nach wenigen Minuten verändert sich was“, sagt Weisshaar. Jeder Schritt sei ihm hier zwar vertraut. Ein bisschen fremd fühle er sich trotzdem jedes Mal, im positiven Sinne. „Beim Laufen fügen sich die einzelnen Elemente um uns herum jeweils zu einer anderen Einheit zusammen, je nachdem auf man sich gerade konzentriert.“
Spazieren galt lange als spießig, nun erlebt es einen Boom
Weisshaar ist Spaziergangsforscher. Er untersucht, wie wir im Gehen unsere Umgebung betrachten und setzt sich für die fußgängerfreundliche Stadt ein. Lange war das ein Nischenthema, Spazieren galt als spießig.
Doch schaut man sich hier im Park an diesem Dienstagnachmittag und andernorts um, wird deutlich: Corona hat uns zu Spaziergängern gemacht. Das Schlendern, allein oder gemeinsam, erlebt aktuell einen echten Boom.
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Gut für Körper und Psyche ist es auch noch. Doch warum eigentlich? Und wie lässt es sich am besten Spazieren, ohne dass Langeweile aufkommt?
Spazieren ist mehr als nur Herumlaufen
Weisshaar macht schnell klar: Spazieren ist für ihn mehr als nur Herumlaufen. Fast immer entstünden dabei neue Fragen – wer wohnt in diesem Haus, was wird hier eigentlich hergestellt? Ihn zieht es dann nicht unbedingt dahin, wo es besonders schön ist.
Reine „Bilderbuchlandschaften“ seien auf Dauer langweilig und der Unterschied zum Wandern. Er sucht die Gegenden, in denen gerade noch „die Seele davonfliegt“ und anschließend die „Rückseite unserer Lebensstile“ offensichtlich wird.
Angetan hätten es ihm etwa die alten Tagebaue am Rand der Stadt. „Wenn man sich dann noch verläuft und man an neue Stellen gerät, ist es besonders gelungen.“
Gehen ist Hirntraining auf höchstem Niveau
Eine Vorliebe, von der Shane O’Mara, Neurowissenschaftler an der Universität Dublin, begeistert wäre. In seinem Buch „Das Glück des Gehens“ erklärt er, sich zu verlaufen sei Hirntraining auf höchstem Niveau.
Das Gehirn besitzt demnach ein eigenes inneres GPS, also Nervenzellen, die uns sagen, wo wir uns in der Welt befinden. Am besten arbeiten die, so der Forscher, wenn man geht und sich dabei zurechtfinden muss, ohne auf Altbekanntes zurückgreifen zu können.
Doppelt so viele Ideen nach zehn Minuten Laufen
Zudem regten aktive Muskeln auch das Gehirn an. Das Blut zirkuliert schneller, mehr Sauerstoff trifft ein. In einem einfachen Experiment, bei dem die Teilnehmer Wörtern Farben zuordnen mussten, hatte sich etwa gezeigt, dass sich durch bloßes Aufstehen und Gehen die Konzentrationsfähigkeit erhöht.
In einem anderen Versuch hatten die Personen doppelt so viele Ideen, wenn sie zuvor zehn Minuten liefen statt saßen. Nicht umsonst hatte schon der Philosoph Jean-Jacques Rousseau geschrieben, er könne „nur im Gehen denken“, und Steve Jobs viele seiner Besprechungen bei Apple als walking meetings abgehalten.
Sportmuffel und Untrainierte können sich auch jederzeit bewegen
Zurück im Park mit Bertram Weisshaar. Etwa eine Stunde ist seit seiner Haustür vergangenen, im mittleren Tempo hat er etwa vier Kilometer zurückgelegt. Darf man das jetzt Sport nennen?
Der Blick in wissenschaftliche Studien zeigt: Man darf. Gehen ist zwar kein Leistungssport. Mit 200 bis 300 Kilokalorien pro Stunde ist der Kalorienverbrauch auch nur etwa ein Drittel so hoch wie beim Joggen.
„Es muss trotzdem nicht immer gleich die Wanderung oder die Jogging-Runde sein, um einen Effekt für die Gesundheit zu haben“, sagt Sport- und Präventionsmediziner Martin Halle von der Technischen Universität München. Das sei ja das Tolle am Spazieren, auch Untrainierte und Sportmuffel könnten sich jederzeit ohne Aufwand und Kosten bewegen.
Spazieren reduziert Risiko für Erkrankungen um 20 Prozent
„Wer täglich rund zehn Minuten zügig spazieren geht, reduziert sein Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes um 20 Prozent“, sagt er. Nach sechs bis acht Wochen verbesserten sich bereits deutlich der Muskelstoffwechsel, die Elastizität der Gefäße und die Herzfunktion.
Natürlich, so der Mediziner, die positiven Effekte steigen mit zunehmender Dauer und Intensität, vor allem, wenn man mal ins Schwitzen kommt. Sein Tipp daher: Mehrere Intervalle mit zügigem Walken in den Spaziergang integrieren.
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Methode zur Behandlung von Depressionen
Spazieren ist jedoch nicht nur was, um sich fit zu halten oder den Kopf frei zu bekommen. Es wird auch zunehmend als Methode verwendet, um Krankheiten wie Depressionen und Angstzustände zu behandeln.
Roswitha Kuriata ist pflegerische Leiterin am Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Bonn. Seit fast vier Jahren setzt sie „Therapeutische Spaziergänge“ am Rheinufer oder im Park bewusst ein und ist selbst manchmal von der Wirkung verblüfft, die vorher im Sitzen nicht eintreten wollte.
„Plötzlich löst sich bei vielen ein Knoten und sie beginnen, viel freier über ihre Probleme zu sprechen“, erzählt sie. Das Prinzip ist einfach: Man läuft gemeinsam los, begegnet vielleicht anderen Menschen, entdeckt die Natur und neue Orte.
Oder man setzt sich eine Aufgabe, sucht nach besonders schönen Steinen oder lauscht den Geräuschen. „Das macht Spaß, fördert den Spieltrieb und schafft einen intensiveren Kontakt zum Therapeuten“, erklärt Kuriata. Allein das Tageslicht wirke antidepressiv.
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WHO empfiehlt 8000 Schritte am Tag
Nach eineinhalb Stunden endet Weisshaars Runde vor seiner Haustür. Der Blick auf seinen Schrittzähler zeigt: 6300 sind es heute gewesen, 8000 empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation am Tag. Laut der Stanford-Universität bringen es Büromenschen weltweit im Schnitt auf etwa 3000 Schritte.
Das war vor der Pandemie. In Zukunft, da ist sich Weisshaar sicher, werden die Menschen mehr spazieren als zuvor. Selbst wenn der Spuk vorbei ist.
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