Wo und wie wollen wir später mal leben – diese Frage beschäftigt ganze Generationen. In einer sechsteiligen Serie stellt das Abendblatt die heute möglichen Formen vor
Sie ist 86, ihr Mann 89 Jahre alt. Beide leben in ihrem vor 40 Jahren selbst entworfenen Bungalow, 20 Kilometer vor Hamburg. Das Ehepaar, das in wenigen Wochen seinen 63. Hochzeitstag feiert, ist der Beweis für den gelebten Traum: Gemeinsam zu Hause alt werden. Ohne Hilfe von außen geht es nicht. Eine kleine verlässliche Gruppe von Menschen hat die Arbeiten in Garten, Haushalt und für den Einkauf übernommen. An einigen Tagen in der Woche wird das warme Mittagessen um zwölf Uhr geliefert.
Ebenso gibt es die 88 Jahre alte Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes sofort in die Zweizimmerwohnung des Seniorenheims ihrer Wahl zog und das viel zu große Eigenheim verkaufte. Ihr Umzug klappte jedoch nur so schnell, weil das Paar bereits seit einigen Jahren auf der Warteliste stand. Und auch diese Seite des Alters ist wahr: zunehmende Pflegebedürftigkeit, Einsamkeit, Hilflosigkeit. Die Erkenntnis, dass nicht viel Zeit bleibt – zum Genießen, zum Lachen, für all das Schöne.
Also gilt es, diese Zeit aktiv zu nutzen. Altersforscher sagen, dass wir als ältere Menschen zu 70 Prozent selbst entscheiden und unser Leben gestalten, nur 30 Prozent werden von den Finanzen, der Gesundheit und der Umgebung bestimmt.
Alt werden ist nichts für Feiglinge nicht alt werden jedoch leider keine Alternative. Älterwerden geht jeden etwas an. Irgendwie tröstlich: Keiner kommt drum herum.
Eine Erfolg versprechende Strategie ist es, so der Berliner Psychologe Clemens Tesch-Römer, die aktuelle Situation nicht mit früheren Lebensphasen, sondern mit der von Gleichaltrigen oder Älteren aus vergangenen Zeiten zu vergleichen. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, hält es für möglich, das Älterwerden ein Stück weit zu lernen. „Das Fundament für das Alter wird in früheren Lebensjahren gelegt. Wie gut es gelingt, hängt von den finanziellen, praktischen, geistigen und emotionalen Ressourcen ab“, sagt Kruse.
Trotz positiver Erkenntnisse aus der Forschung, wonach die Lebenszufriedenheit der 75-Jährigen der von 45-Jährigen gleichkommt, erschrecken Meldungen über mit Psychopharmaka ruhiggestellte Senioren in Pflegeheimen und die mit zunehmendem Alter steigenden Suizidzahlen. Dann lieber doch das eigene Älterwerden verdrängen. Und in jugendlichem Joggingdress täglich beherzt und keuchend gegen sein Alter anlaufen. Oder?
Mancher hingegen beginnt früh, sich mit dem Älterwerden auseinanderzusetzen, und besucht mit Mitte 40 eine Seniorenwohnanlage am Tag der offenen Tür – um Ängste und Vorurteile abzubauen. Dem kinderlosen Single stellt sich die Frage: Wie möchte er im Alter wohnen? Und was wird das kosten? Wie viele persönliche Dinge passen in ein 32m2 großes Ein-Zimmer-Apartment mit Schlafnische und Einbauküche im Flur? Dann: Der Blick aus dem großen Fenster auf Wiesen und Felder ist eine positive Überraschung. Der Alarmknopf in Bad und am Bett (für später) beruhigend. Der Anblick der vielen gebrechlichen alten Menschen am Stock oder mit Rollator beunruhigend. Das Mittagessen täglich eine Freude.
Wer einen übersichtlichen Ratgeber sucht, der die Häuser für Senioren in Hamburg und Umland mit Preisen und Leistungen vorstellt: Es gibt ihn. „Umsorgt wohnen in und um Hamburg“ ist eine Erfolgsgeschichte und eng verbunden mit seinen Autoren Jochen Mertens und Thomas Wendt. Hört man deren Berichte über die alten Menschen, die sie während ihrer Recherche kennengelernt haben, wird sofort klar: Beide Männer stehen mit ganzem Herzen hinter ihrem Buch.
Alles begann vor 18 Jahren mit Tante Gretel, einer 1,55 Meter großen ehemaligen Musiklehrerin, damals 80 Jahre alt und die Patentante von Jochen Mertens. „Sie sagte, schaut bitte mal, was Altenheime kosten. Nur für den Notfall", sagt Mertens. Denn seine Tante Gretel lebte in ihrer Dreizimmerwohnung in Bad Oldesloe und war noch fit. „Also riefen wir bei Altenheimen an. Für Termine hatten diese keine Zeit. Wir erhielten nur Hochglanzkataloge, allerdings fehlten meistens die Preise."
Hörfunkreporter Jochen Mertens und Bankkaufmann Thomas Wendt betraten in den folgenden Jahren Neuland. Sie recherchierten, sammelten Zeitungsausschnitte, und langsam entstand die Idee, eine Beratungsstelle zu gründen, denn die Pflegeversicherung war damals neu. Sie besorgten sich einen Gewerbeschein, schalteten Anzeigen. Ihr Vorhaben funktionierte jedoch nicht. Bis Thomas Wendt die Idee hatte, einen Ratgeber zu schreiben.
„Im Juli 1997 schlugen wir dem Hamburger Abendblatt unsere Idee vor“, sagt Wendt. Am 15. Dezember 1998 kam „Umsorgt wohnen“ dann auf den Markt. „Das erste Verkaufswochenende war der 19. Dezember, und an der damaligen Abendblatt-Geschäftsstelle am Rathaus war eine Schlange wie bei einem Robbie-Williams-Konzert“, erinnert sich Mertens schmunzelnd. 2400 Bücher gingen in elf Tagen über den Ladentisch.
Eigentlich sollte nach der ersten Auflage Schluss sein. Gerade ist die neunte Auflage erschienen, und Mertens ist inzwischen als Verleger und Autor tätig. Hieß es zu Beginn noch kritisch „Wollen Sie die Menschen ins Heim bringen?“, kaufen mittlerweile viele Kinder „das Abendblatt-Buch“, wie das Nachschlagewerk umgangssprachlich heißt.
Und Tante Gretel? „Sie hatte noch zehn gesunde Jahre, bis sie 90 war“, sagt Mertens. Die kinderlose Tante, deren Mann nach drei Jahren Ehe im Krieg starb, musste den Tod ihrer beiden Schwestern betrauern, ebenso starb ihr Neffe mit 62 Jahren. Die Autoren kümmerten sich um die alte Dame, organisierten, als nach einem Schlaganfall ihr Sprachzentrum gestört war, eine Logopädin und eine Altenpflegerin. „Trotz vieler Einschränkungen hatte sie ihren Lebenswillen behalten“, sagt Mertens. Erst mit 97 Jahren entschloss sie sich zum Umzug in ein Altenheim.
Fest steht: Große Veränderungen wie ein Umzug fallen mit 80 deutlich schwerer als mit 60. „Der Fortschritt hat unserem Leben einige Jahre geschenkt“, sagt Autor Hajo Schumacher, der sich ausführlich mit den Fragen des Alters beschäftigt und darüber ein Buch geschrieben hat (siehe Interview). Es gehe nun darum, diesen Jahren nach 65 ein Leben zu schenken. „Erforschen wir unsere Träume. Wagen wir Neues? Gutes Älterwerden klappt, wenn wir uns kümmern.“ Der Mensch sei zu fantastischen Leistungen imstande, wenn er will. Auch in reiferem Alter.