Vor der Bundestagswahl bereist Matthias Iken das Land, spürt der Seele der Bundesbürger nach. Teil 7: Ein Besuch bei VW in Wolfsburg.
Was haben Goethe, Kuckucksuhren, die Loreley und die Götterdämmerung mit dem VW Käfer gemeinsam? Sie standen in den 60er-Jahren gemeinsam auf einer Magazin-Anzeige. „Das liebt die Welt an Deutschland“, texteten die Werber darüber, und im Kleingedruckten ist zu lesen: „Von Jahr zu Jahr schwirren mehr Käfer ins Ausland. Unter den Dingen, die man im Ausland für typisch deutsch hält, ist der Volkswagen zweifellos besonders beliebt.“
Nach Diesel-Skandal, Fahrverbotsdebatten und Stickoxidaufregung hat VW derzeit vor allem mit Götterdämmerung zu tun. Deutschlands größter und wichtigster Konzern hat sich selbst in die Krise manövriert – und damit Wolfsburg gleich mit. Das Verhältnis VW-Mitarbeiter zu Einwohnern liegt noch immer bei fast 1:2; Wolfsburg ist VW, und VW ist Wolfsburg. Wobei: Eigentlich gibt es zwei Wolfsburg.
Der Stadt fehlen Patina und Charisma zugleich
Das eine ist nicht arm, vor allem aber nicht sexy. Der Planstadt, von den Nazis als „Stadt des KdF-Wagen bei Fallersleben“ 1938 gegründet, fehlen Patina und Charisma zugleich. Hitler wünschte sich damals eine Stadt der Zukunft, keine einzige Kirche sollte dort entstehen. Und doch sind die ersten Wohnungen für die Werktätigen des Dritten Reichs fast noch architektonische Schmuckstücke im Vergleich zu dem, was folgte. Nach den Rechten kamen die rechten Winkel. Betonmonster der 50er- und 60er-Jahre verunstalten das Gesicht der Stadt. Manche Hamburger mögen sich an die Große Bergstraße erinnert fühlen. Sie heißt dort Porschestraße, weckt aber falsche Assoziationen. Mit den Billigheimern der deutschen Provinz, ob Tedi oder Kik, mit Schildern wie „Kaufe Zahngold – auch mit Zähnen“ sollte die Ladengasse vielleicht besser Ladagasse heißen. Wolfsburgs Lichtblicke senden die Museen – das Kunstmuseum, das Science-Center Phaeno, das Planetarium.
Das andere Wolfsburg überragt die Skyline: Die massiven Backsteintürme des alten Heizkraftwerks recken sich in den norddeutschen Himmel, die 1300 Meter langen Fabrikhallen liegen wie ein gigantischer Riegel hinter dem Mittellandkanal. Seitlich schmiegt sich die faszinierende Autostadt, die selbst größte PS-Muffel begeistert, mit dem Ritz Carlton an das Gelände. Die Größe des Volkswagen-Konzerns misst sich nicht nur an den Bilanzzahlen (10,4 Millionen verkaufte Fahrzeuge, 626.715 Beschäftigte, 217 Mrd. Euro Umsatz), sondern auch an seiner Architektur. Das acht Meter große Logo von VW ist nicht zu übersehen. Auch die Ausmaße des Geländes sprengen herkömmliche Größen. Allein in den Hallen fände das Fürstentum Monaco Platz. Mit Buslinien, benannt nach VW-Modellen, oder Dienstfahrrädern legen die Beschäftigten ihre Wege in der größten zusammenhängenden Automobilfabrik der Welt zurück. 60.500 Menschen arbeiten hier in Wolfsburg. Im Scherz wird darauf verwiesen, dass der Bestseller aus Halle 50 kommt: In der hauseigenen Fleischerei werden 800 Tonnen Fleisch verarbeitet, zu sieben Millionen Currywürsten im Jahr.
Das größte Unternehmen des Landes
Es sind Zahlen, die ein wenig von der Größe und volkswirtschaftlichen Bedeutung der Automobilindustrie erzählen: 7,7 Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands gehen direkt oder indirekt auf die Autoproduktion zurück.
Wer derzeit die Feuilletons durchstreift oder den Wahlkämpfern lauscht, wähnt das Automobil hingegen in einer Sackgasse. Jan Fleischhauer hat es in seiner „Spiegel“-Kolumne schön zugespitzt: „Die traditionelle deutsche Limousine ist der alte, weiße Mann der Warenwelt. Geduldet, aber nicht geschätzt.“ Wobei sich öffentliche Meinung und privates Leben mitunter widersprechen: Umweltschutz wird immer wichtiger – zugleich steigt die Zahl der Kilometer, jeder will das Klima retten – und mit dem Auto zum Brötchen holen. Wir empören uns über Stickoxide und kaufen immer größere Wagen. Allen Debatten einer Mobilität ohne Auto zum Trotz wächst die Gesamtfahrleistung der Pkw in Deutschland von Jahr zu Jahr, sie stieg von 77 Milliarden Kilometer 1960 über 517 Milliarden Kilometer zur Jahrtausendwende auf nun 626 Milliarden Kilometer. Für einen Abgesang auf das Auto könnte es also etwas früh sein. Zum Jahreswechsel waren in Deutschland 45,8 Millionen Pkw zugelassen, so viele wie nie zuvor, knapp zwei Drittel davon deutsche Marken.
Vielleicht ist das ein Grund, warum die vier Auszubildenden zum Kfz-Mechatroniker bei VW, die ich im Ausbildungszentrum treffe, weder die Weltuntergangsstimmung teilen noch an eine Autoaustreibung glauben. „Ich mache mir keine Sorgen“, sagt Anna-Ida Heuer, 18, aus dem dritten Lehrjahr. „Natürlich geht der Trend in Richtung E-Mobilität, man kann aber nicht schnippen, und alles ist anders – die Verbrennungsmotoren werden nicht so schnell von den Straßen verschwinden. Auch Azubi Vincent Siermann, 20, ist sich sicher: „Wir müssen den Diesel noch besser und sauberer machen.“ Schließlich könne sich nicht jeder ein Elektro-Mobil leisten.
Junge Auszubildende glauben an eine Auto-Zukunft
Nein, das Automobil will diese Generation Golf – alle fahren den Wolfsburger Bestseller – nicht missen. „Das Auto steht für mich für Freiheit“, sagt Oliver Gasch, 19, dualer Student bei VW. „Als junger Mensch will man frei sein. Wir wollen ans Meer fahren, in die Berge und selbst entscheiden, ob wir nun links oder rechts abbiegen.“ Er glaubt nicht an die Zukunftsvisionen, wonach der Führerschein zum Auslaufmodell wird, wenn das autonome Fahren sich erst einmal durchgesetzt hat. „Dafür macht Autofahren einfach zu viel Spaß“, sagt auch Heuer. „Das Auto ist sexy. Definitiv“, sagt Maximilian Purrucker, 20.
Wie sexy, zeigt sich in der Lehrwerkstatt des VW-Werks. Jedes Jahr dürfen besonders engagierte Auszubildende aus verschiedenen Lehrberufen ihren eigenen GTI bauen und dann am Himmelfahrtstag am Wörthersee präsentieren. Das jüngste Werk – Nummer 10 – steht im hinteren Teil der Werkstatt. Hier haben 13 Auszubildende aus sechs Lehrberufen ihren Tuning-Traum verwirklicht: Der dunkelblaue Lack ist mit Folien und Streifen aufgehübscht, die Nähte an den Massage-Sitzen im Innern, die sich per App einstellen lassen, leuchten im gleichen Türkis wie die Felgensterne. Das Showcar verfügt über zwei Antriebe, einen 410-PS-Benzinmotor und einen 12-kW-Elektromotor, die auch kombiniert gefahren werden können. Die Boxenhalter, aus denen Musik wummert, sind mit dem 3-D-Drucker passgenau gefertigt. Die Hightech-Soundanlage mit Internetanbindung bringt es mit elf Lautsprechern und Subwoofer auf 1690 Watt Gesamtnennleistung.
Was aussieht wie eine große Spielerei, ist in Wahrheit perfekter Unterricht: Die Auszubildenden müssen Vorschläge erarbeiten, im Team diskutieren und dann mit ihrem Projektleiter abstimmen. So lernen sie, was geht, was noch nicht funktioniert und wie man es besser macht. Inzwischen ist der zehnte Wörthersee-GTI gefertigt, Siermann und Purrucker fiebern schon der Teilnahme an Crew 11 entgegen. Alle vier Auszubildenden leben die Faszination Auto. Siermann wollte bereits als Dreikäsehoch Autos bauen, Gasch ist mit VW aufgewachsen, schon seit Vater arbeitet hier: „VW ist das Markenzeichen der Region.“
Und der größte Arbeitgeber des Landes. Allein 5675 Jugendliche machen derzeit eine Ausbildung bei VW, weltweit lernen sogar 28.000 junge Menschen bei Volkswagen. Die Wolfsburger haben das deutsche Modell der dualen Ausbildung an ihre Standorte im Ausland exportiert. Als multinationaler Konzern ist VW auf allen Kontinenten vertreten und hat mit dem Käfer und dem Golf zwei Fahrzeuge unter den vier meistverkauften Fahrzeugen der Welt.
Vor 25 Jahren standen 15.000 Arbeitsplätze auf der Kippe
Der Diesel-Skandal hat die Erfolgsgeschichte der Wolfsburger beschädigt, und der Stimmungsumschwung gegen die Selbstzünder setzt das Unternehmen zusätzlich unter Druck. Die jüngsten Verkaufsdaten müssen am Mittellandkanal alarmieren. Der Anteil des Diesel sank binnen Jahresfrist bis August 2017 von 45,3 auf 37,7 Prozent. Die VW-Kernmarke verlor bei den Zulassungen fast elf Prozent. Von einer Krise will bei VW niemand reden. Im Vergleich zur Situation 1992/93 sieht die Situation noch rosig aus. Vor bald 25 Jahren, als Folge einer dramatischen Absatzkrise, standen damals 15.000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Die Einführung der Viertagewoche verhinderte Massenentlassungen und ebnete den Weg zurück zum Erfolg. Wolfsburg hat diese Zeit nicht vergessen – damals kletterte die Arbeitslosigkeit auf bis zu 20 Prozent. Wenn VW einen Schnupfen bekommt, droht der Stadt eine Lungenentzündung.
Vielleicht aber gehen beide aus der Krise gestärkt hervor. Im Unternehmen hört man viel vom Kulturwandel, den der Diesel-Skandal ausgelöst hat, Hierarchien fallen, die Strukturen offener und demokratischer. Die vier Auszubildenden sind erst seit 2015 bei VW, aber alle träumen von einer Zukunft im Bereich Forschung und Entwicklung; Gasch will beim autonomen Fahren mitwirken, Siermann ist „offen für alles, egal ob im Bereich E-Mobilität oder Verbrennungsmotoren.“ Und Anna-Ida Heuer betont: „Fehler gehören dazu, aber wir werden aus diesen Fehlern lernen. Das spornt uns an zur Wiedergutmachung“, sagt die 18-Jährige. „Ich mache mir keine Sorgen.“ VW und Deutschland haben eine besondere Beziehung. Es ist, wie Michael Jürgs in seinem klugen Buch „Wer wir waren, wer wir sind“ schreibt: „Das Auto ist neben dem Hund der liebste Hausfreund der Deutschen. Jeder kann eine Geschichte erzählen, was er wann und wie in seinem Auto schon erlebt hat, wo auch immer. Für eine ganze Generation ... begann ihre Autogeschichte mit einem VW.“ Wer nur für zehn Cent wirtschaftlichen Verstand hat, muss hoffen, dass es so weitergeht.