Zugspitze. Vor der Bundestagswahl bereist Matthias Iken das Land, spürt der Seele der Bundesbürger nach. Teil 1 zur deutschen Liebe zum Wandern.
Hinter der Kurve endet die Zivilisation. Eben noch sind wir mit der Kreuzeckbahn in einer Gondel auf 1650 Meter über Normalnull in die Höhe geschaukelt. Technik, Tourismus, Trubel. Hier oben locken die Bergstation, Aussichtspunkte und eine Hütte des Deutschen Alpenvereins, unten liegt das quirlige Garmisch-Partenkirchen. Doch wer nur einige Hundert Meter Richtung Hupfleitenjoch weiterwandert, ist an diesem Morgen bald allein. Durch die Hänge hindurch, vorbei an tiefenentspannten Kühen, weißen Alpen-Küchenschellen und violetten Witwenblumen lockt der Berg. Der Wanderer ist bei sich, er geht, geht auf in der Natur. Wie wusste schon Goethe: „Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.“ Entschleunigen statt eilen, lauschen statt schwätzen, wahrnehmen statt konsumieren. Einfach laufen. Einfach leben.
Auch die Kanzlerin wandert
Wandern! Das vielleicht deutscheste aller Hobbys. Kein Wandertag in der Schule, kein Wandertrauma früherer Sommerfrische, kein verstaubtes Wanderlied kann uns das Wandern verleiden. Sogar das Wörtchen Führer hat hier überlebt, im Wanderführer. Früher gab es die rote Mao-Bibel, heute gibt es den roten Rother-Wanderführer in Millionenauflage. Die Kanzlerin wandert, Bürgermeister Olaf Scholz ohnehin, wohlwissend, dass dies beim Fußvolk ankommt. Der Reiseweltmeister trägt Wanderstiefel. Der Statistik zufolge schreiten fast 38 Millionen Bundesbürger regelmäßig aus.
Wanderburschen und Wandervögel tummeln sich in der deutschen Geschichte: Literaten wie Heinrich Heine, Hermann Hesse, Hölderlin, Bundespräsidenten wie Theodor Heuss oder Karl Carstens. Wer einmal weg ist, ist bald wieder da — ganz oben auf der Bestsellerliste. Hape Kerkelings Pilgermarsch nach Santiago de Compostela avancierte 2006 zum erfolgreichsten Sachbuch seit Jahrzehnten und belegte 100 Wochen den ersten Platz der Bestsellerliste.
Der Deutsche ist Wandersmann
Besonders gerne wandert das Volk in den Bergen. Einer der schönsten Wege durch die Alpen führt unterhalb der Zugspitze in das Höllental hinein. Im Sommer machen sich Tausende auf den Weg, die meisten steigen aus Grainau empor. Die Höllentalklamm ist ein deutscher Canyon, eine Schlucht, die sich bis zu 150 Meter tief in den Stein gefressen hat. Wasserfälle, majestätische Felsformationen, dunkle Tunnel und wackelige Brücken führen nach oben. Zwischen 1902 und 1905 schufen Arbeiter ein beeindruckendes Naturdenkmal, sie spannten Drahtseile, sprengten Tunnel und verbauten 140 Zentner Zement. Heute erwandern sich jährlich rund 60.000 Besucher die über einen Kilometer lange Klamm, deren Weg sich durch zehn Tunnel windet und 118 Höhenmeter überwindet.
Eine nasse Welt
Der Hammersbach, der unterhalb der Klamm unscheinbar dahinplätschert, verwandelt sich in der engen Schlucht in eine Bestie. Eine nasse Welt, unten rauschen in ohrenbetäubender Lautstärke die Fluten, von oben tropft selbst an heißen Sommertagen das Wasser und rinnt über die Wege. Eine Wasserwelt und ein Schaulaufen der Outdoor-Bekleidungsindustrie: Funktionsjacken aller Marken und in allen Formen und Farben, ein Volk in Wanderstiefeln.
Die wirklichen Wanderer zieht es weiter. Und ihre Mühe wird belohnt – egal ob man vom Kreuzjoch ab- oder durch die Klamm emporsteigt. Auf 1387 Meter liegt eine Hütte. Und was für eine: Die neue Höllentalangerhütte ist ein Wanderertraum, ein Aushängeschild, ein Politikum.
Der Deutsche Alpenverein (DAV) hat hier nach jahrzehntelanger Planung und gegen erbitterte Widerstände 2014 und 2015 eine moderne Hütte errichtet. Mehr als sechs Millionen Euro hat die Sektion München des DAV am Höllentalanger investiert – und damit die Tradition des Alpenwanderns in ein neues Jahrtausend überführt.
Neue Hölle für das 21. Jahrhundert
„Seitdem die Hütte fertig ist, ist die Kritik verstummt“, sagt Pächter Thomas Auer aus dem österreichischen Pitztal.
--- Drei Fragen an Thomas Auer ---
Seit 2010 ist er der Chef der „Hölle“ – damals eines liebenswürdigen wie sanierungsbedürftigen Hauses aus dem Jahr 1894. Weder beim Brandschutz noch bei den Arbeitsstättenrichtlinien noch bei Hygienevorschriften sei die alte Hütte zukunftsfähig gewesen, die Mitarbeiter mussten teilweise in schimmeligen Räumen wohnen.
2013 wurde die alte „Hölle“ abgerissen. „Natürlich ist es schade um das traditionsreiche Haus“, sagt Auer. „Aber die Petition für den Erhalt der alten Hütte habe ich auch nicht verstanden“, erzählt er. „Als einer Unterschriften für den Erhalt des alten Gebäudes sammeln wollte, habe ich ihm mal das Haus gezeigt. Dann hat er es eingesehen.“
Debatte unter Alpinisten
Die neue „Hölle“, sie ist ein Sternebau – wenn es diese Kategorien bei Alpenvereinshütten gäbe. Eineinhalb Jahrzehnte hat die Sektion München die Hütte geplant, herausgekommen ist eine Mischung aus Tradition und Moderne. Der Bau unter dem lawinengeschützten Pultdach ist in hellem Holz gehalten, gleich vier Gasträume gibt es für die bis zu 140 Besucher; mehrere Duschen versprechen Komfort. Trotzdem geht die Debatte unter Alpinisten weiter – auf der einen Seite die anspruchsvollen Wanderer, auf der anderen die Traditionalisten, die mehr und mehr nach „wilden Hütten“ mit einfachster Kultur verlangen.
Auer kennt beides. Als Kind ist er in den Sommerferien auf der „Braunschweiger Hütte“ aufgewachsen, einer Alpenvereinshütte im hintersten Pitztal, die seine Eltern als Betreiber führten. Er resümiert: „Die Ansprüche sind nicht weniger geworden, zugleich aber schwindet das Verständnis, dass wir hier oben in der Hütte wie auf einer Insel leben“. Tatsächlich mokieren sich manche über Sylter Preise, dabei müssen Getränke und Nahrungsmittel per Materialbahn, in manchen Häusern sogar per Hubschrauber eingeflogen werden.
Auf den Sommer verzichten
Es gibt einsam liegende Einrichtungen, in denen allein die Bereitstellung eines Liters Wasser fünf Euro kostet. Da verlangen die Pächter für ein Bier oder eine Limonade schnell mehr als vier Euro. Und natürlich wollen sie auch etwas verdienen. „Sonst würde ich das auch nicht machen“, sagt Auer. Aber Geld allein treibt die Hüttenmanager nicht in einsame Höhen. „Es muss einem gegeben sein“, sagt Auer, der zudem im Pitztal das Vier-Sterne-Hotel Andreas Hofer betreibt. „Wir müssen hier oben auf den Sommer verzichten. Wenn der Frühling kommt, ziehen wir auf den Berg. Und wenn er vorbei ist, geht es ins Tal zurück.“
Den Sommer oben kann man kaum genießen, weil ein Berg von Arbeit auf die Pächter wartet. Ruhetage gibt es nicht, die Tage sind lang, sie reichen von halb 5 in der Früh bis 11 Uhr in der Nacht. Da kommt manche Hüttenromantik zu kurz. Das gemeinsame Singen oder Musizieren im Gastraum ist eher selten geworden, obwohl seine Gattin Ziehharmonika spielt und Auer selbst „die besondere Atmosphäre“ schätzt, wenn gesungen wird. „Man ist einfach froh, wenn man in der Horizontalen liegt.“
Rund 11.000 Übernachtungen
So geht es auch den Wanderern. Die Höllentalangerhütte zählte im vergangenen Jahr rund 11.000 Übernachtungen. Das Wandern, der Kampf mit dem Berg und dem inneren Schweinehund, macht so müde, dass viele auch Hardcore-Schnarcher im Matratzenlager ertragen – und sogar gern wiederkommen.
Oft sind es Besserverdiener, die mit Freuden freiwillig auf jeden Komfort verzichten und in die Berge strömen. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben wächst offenbar mit dem Kontostand. „Es gibt schon Geschäftsleute, die vom iPhone und Laptop getrieben sind und hier oben die Ruhe genießen.“ Nur im Bereich der Rezeption verbindet das Internet die „Hölle“ mit der Welt, sonst taucht man ein in das Tal der Ahnungslosen. „Man ist hier der Welt entrückt“, sagt Auer. „Unten ärgere ich mich jeden Tag über die Nachrichten, hier oben schaue ich kaum rein – und muss mich nicht mehr ärgern.“
323 Alpenhütten
Wandern ist die Entdeckung der Langsamkeit. Vier bis sechs Stundenkilometer ist das menschlichste aller Tempi; nichts rauscht vorbei, alles wird sicht-, spür-, fühlbar. Das Leben als Aussteiger auf Zeit lockt immer mehr Menschen in die Höhe. Die 323 Hütten des Alpenvereins zählen pro Jahr 750.000 Übernachtungen. Die Deutschen bilden die absolute Mehrheit, gerade an der Zugspitze – auch weil der höchste Berg des Landes noch immer einen besonderen Ruf genießt. „Jeder Deutsche, der etwas vom Wandern hält, muss über den Höllental-Klettersteig gewandert sein“, weiß Auer. Er sieht einen Trend zum Wandern gerade bei Jüngeren: „In den Achtzigerjahren war das Wandern out, nun gilt es wieder als cool. Dazu hat sicher auch die Outdoor-Branche viel beigetragen.“ Nicht nur Jugendliche, auch junge Familien zieht es vermehrt in den Berg.
So geht es auch Auers Familie. Sein Sohn Gernot, der Älteste von fünf Kindern, bewirtschaftet seit diesem Jahr die Knorrhütte unterhalb des Zugspitzplatts. Fast 700 Meter oberhalb seines Vaters versorgt er die Bergsteiger, die der Zugspitze zustreben. „Vielleicht wird die Liebe zu den Hütten vererbt“, sagt Auer. Warum auch nicht? Die Liebe zum Wandern vererben die Deutschen schließlich seit Jahrhunderten.
Die Serienteile:
1. Zugspitze Faszination
Wandern: Höllentalangerhütte
2. Lüneburg Deutschland von außen: Prinz Asfa-Wossen
Asserate
3. Hamburg Singen für die Demokratie: Tournee mit Wolf Biermann
4. Weimar Deutsche Klassik: Geschichte im Kleinen
5. Wittenberg Im Lutherjahr: Was bleibt vom Glauben?
6. Wesenberg Landwirtschaft: Auf dem Bio-Gourmethof
7. Wolfsburg Das Automobil: VW-Werk
8. München Land der Ideen: Deutsches Museum
9. Hümmel Der deutsche Wald: Peter Wohlleben
10. Hamburg Spiel der Millionen: Das Miniaturwunderland