Weimar. Vor der Bundestagswahl bereist Matthias Iken das Land, spürt der Seele der Bundesbürger nach. Teil 4: Kultur als Standortmarketing.
Weimar ist 84,42 Quadratkilometer klein und doch größer als El Salvador, Gabun oder Mosambik. Zumindest, wenn man in der Welterbe-Liste der Unesco stöbert: Schon 1996 gab es für das Städtchen in Thüringen den Stempel für das „Bauhaus und seine Stätten in Weimar und Dessau“, zwei Jahre später kam das Gütesiegel für das „klassische Weimar“ hinzu. Zwei Welterbe in einer Stadt – darauf blicken ganze Staaten neidisch. Und wie dichtete einst Goethe? „O Weimar! dir fiel ein besonder Loos! Wie Bethlehem in Juda, klein und groß!“ Man mag diese Vergleiche übertrieben finden, aber unumstritten ist: Weimar zählt zu den schönsten Städten des Landes. Und zu den sehenswertesten allemal.
Das Städtchen in Thüringen gleicht einer Puppenstube, aber voller Leben; sie ist ein Idyll, aber eines mit Brüchen, sie ist voller Geschichte, aber trotzdem modern. Anders als andere touristische Kleinode wirkt Weimar nicht wie ein Museumsdorf, seine Universität hält den Ort jung, wild, munter. Die Straßencafés sind noch am Abend gut gefüllt, vor dem Nationaltheater üben Skater ihre Tricks, auf den Plätzen sitzen Jugendliche mit der Gitarre. Weimar ist besonders. Nicht zuletzt wegen seiner Historie.
Drei Fragen an Anselm Graubner
Im 16. Jahrhundert wurde der Ort Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums Sachsen, des ersten Staates in Deutschland, der sich eine Verfassung gab (1816). Ein Land, das jahrelang klug und besonnen von der Herzogin Anna Amalia regiert wurde und in der Folgezeit zu dem Zentrum des kulturellen Lebens wurde, das bis heute weiter strahlt. 1999 avancierte die Kleinstadt gar zur Kulturhauptstadt Europas.
„Weimar hat immer geschaut, Kunst in die Stadt zu holen und so seine Position zu verbessern“, sagt Anselm Graubner. „Eigentlich betreibt die Stadt schon seit 500 Jahren Standortmarketing.“ Der Hotelier, Kulturschaffende und Macher blickt auf eine bewegte Biografie aus beiden deutschen Staaten zurück: Geboren 1968 in Wismar, aufgewachsen bei Potsdam, 1981 mit der Familie in den Westen ausgereist und mit der Revolution 1989 nach Weimar in den Osten zurückgekehrt.
Einmalige Chance
Damals unterbrach der junge Mann sein Fotojournalismus-Studium in Dortmund und fand in Weimar Motiv über Motiv: „Das war vielleicht die spannendste Zeit meines Lebens: Ein Staat löst sich auf, ein neuer bildet sich.“ Viel treibt er sich zu Wendezeiten im Kulturzentrum ACC Galerie herum, einem Treffpunkt der Szene, den die DDR-Oberen widerstrebend geduldet hatten und der sich unter der neuen Freiheit rasant entwickelt.
Graubner hängt den Journalismus an den Nagel, bekommt 1992 eine ABM-Stelle in der Galerie, studiert nebenbei Jura und wechselt schließlich zur BWL. Eher durch Zufall kommt er zu Hotellerie: Um die Arbeit im Kulturzentrum zu finanzieren, wird das Dachgeschoss dort zur Ferienwohnung, weitere Zimmer kommen nach und nach dazu. „Gelegenheiten ergeben sich“, sagt Graubner. „Man muss sie am Schopfe packen.“
Schließlich bekommt er die einmalige Chance, in der Nachbarschaft von Goethes Wohnhaus ein Grundstück zu erwerben. In der Seifengasse errichtet er ein Ferienhotel allein aus Holz und Lehm – ein neuer Typus Hotel, das erste reine Holzhaus, ein mehrfach prämiertes Konzept. Und eines, das die Banken zunächst nicht finanzieren wollten. Hilfe kam von einem vermögenden amerikanischen Ehepaar, das sich in Weimar verliebt hatte.
Notenbank wird Zentrum der Musik
Und dieses Ehepaar lässt Weimar nicht los. Ihre Heyge-Stiftung, die sich der frühkindlichen musikalischen Förderung verschrieben hat, investiert ihr Stiftungsvermögen in eine der faszinierenden Immobilien der Stadt: die Notenbank. Der schwere wilhelminische Bau aus den Jahren 1893/94 verfügt über 6000 Quadratmeter Fläche und 185 Zimmer. Die ehemalige Landeskreditanstalt des Großherzogtums Sachsen, spätere DDR-Staatsbank, Landeszentralbank und schließlich Commerzbank, war die Problemimmobilie eines US-Investors. Groß, alt, denkmalgeschützt.
Mit dem Geld der Heyge-Stiftung und der Kreativität der Weimarer um Graubner verwandelt sie sich gerade. „In Weimar findet man schnell Menschen, die Dinge begreifen und mit denen man einiges auf den Weg bringen kann“, sagt Graubner. Die Notenbank wird zu einem Zentrum der Musik. In den Tresorräumen, in denen die DDR einstmals ihre schmalen Devisenreserven verwahrte, üben nun Schlagzeuger; ein Chor singt in der Kassenhalle, und Besucher können die Direktorenwohnung mieten – einen atemberaubenden Blick von der Dachterrasse über die Stadt gibt es inklusive. Im vergangenen Jahr zählte Weimar 715.000 Übernachtungen, die Zahl geht stetig nach oben.
Goethes Weltbürgertum aktueller denn je
„Weimar ist toll“, sagt Graubner und blickt über die Dächer des historischen Ortskerns, die Herderkirche, das Nationaltheater. „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“, zitiert Graubner Thomas Morus. Weimar sei Flamme, nicht Asche. „Es gibt wenige Städte, die einerseits kleinteilig sind und dabei so welt- und herzensoffen. Hier weht ein besonderer Geist.“ Vielleicht ist es der Geist von Schiller und Goethe, ihr Weltbürgertum erscheint heute aktueller denn je. Die Großdichter wurde oft missverstanden, missdeutet und missbraucht: Joseph Goebbels hielt „Wilhelm Tell“ für ein Führerdrama, Walter Ulbricht halluzinierte vom sozialistischen Staat als „dritten Teil des ,Faust‘“.
Trotz alledem werden die Weimarer Klassiker auch 200 Jahre nach ihrem Wirken weiterhin verstanden, gedeutet und gebraucht. „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden“, schrieben Goethe und Schiller 1796. Die Suche währt bis heute. Doch nirgends ahnt man es eher als in Weimar.
„Was du ererbt von deinen Vätern hast, // erwirb es, um es zu besitzen“ zitiert Graubner Goethe. In „Hoffmann’s Buchhandlung“, seit mehr als 300 Jahren an der Schillerstraße, hängt ein großes Plakat: „Klassiker brauchen Pflege.“ In alle Richtungen weisen Straßenschilder zu deutschen Geistesgrößen – hier dichtete Johann Wolfgang von Goethe, dort komponierte Franz Liszt, da arbeitete Friedrich Schiller. Es sind nicht allein die klingenden Namen, es ist das ganze Ambiente, das fasziniert.
Eine Stadt, die so gar nichts Großstädtisches hat, die Häuser sind klein und anheimelnd; es gibt viele Cafés, aber keine von der Stange. Schokolädchen statt Starbucks, Elephant Bar statt Kentucky Fried Chicken. Alles eingebettet in eine malerische Landschaft, die das Flüsschen Ilm prägt. Eine Stadt der Kunst und der Künstler im Grünen. Würde man deutsche Romantik malen, das Bild zeigte Weimar.
„Jedem das Seine“
Welche Stadt birgt mehr Geschichte und mehr Geistesgrößen als das Örtchen am Rande des Thüringer Waldes? Ein „Weltnest“. Liszt, Bach und Strauss; Goethe, Schiller, Nietzsche und Herder; Bauhaus und die Herzogin Anna Amalia Bibliothek mit ihren mehr als eine Million Büchern. Die Nationalversammlung von 1919. Und Buchenwald.
In Sichtweite der Stadt findet das Schwelgen über deutsche Herrlichkeit ein jähes Ende. 1937 gründeten die Nazis hier ein Arbeitslager, das auch ohne Gaskammern zu einem Mordlager wurde: Von den etwa 266.000 inhaftierten Menschen aus allen Ländern Europas starben 56.000 Menschen, erschossen, verhungert, zu Tode gequält. Über dem Tor prangt bis heute die Inschrift „Jedem das Seine“, eine Botschaft, die das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Akt des Widerstandes in Druckschrift
Ein Unmenschen-Regime verhöhnt die Werte der Gerechtigkeit und missbraucht, ausgerechnet, einen Satz aus einer Weimarer Bach-Kantate. Jener Johann Sebastian Bach lebte von 1708 bis 1717 unterhalb des Ettersberges. Seine Kantate BWV 163 wurde erstmals in der Schlosskirche zu Weimar aufgeführt. Auch der erste große Parteitag der NSDAP fand 1926 in Weimer statt. Zwischen deutscher Größe und deutscher Monstrosität liegt ein Spaziergang.
„Jedem das Seine.“ Der Schriftzug in Buchenwald wurde auf Befehl der Nazis vom inhaftierten Architekten Franz Ehrlich entworfen. Er nutzte dafür Lettern des verfemten Bauhauses. Ein Akt des Widerstandes in Druckschrift. Dort ging auch nach dem Krieg das Töten weiter – die Sowjets verwandelten Buchenwald in ihr Speziallager Nr. 2. Hier wurden zunächst echte und vermeintliche Nationalsozialisten, bald aber alle Regimegegner inhaftiert. Von 28.000 Insassen starb jeder Vierte.
Die viel gerühmte Deutschland-Ausstellung im Britischen Museum behandelte den Komplex Goethe, Bauhaus, Buchenwald in einem gemeinsamen Abschnitt. Der Ausstellungsmacher Neil MacGregor fragt in seinem unbedingt lesenswerten Deutschland-Buch: „Wieso haben die großen humanisierenden Traditionen der deutschen Geschichte – Dürer, Lutherbibel, Bach, die Aufklärung, Goethes Faust, das Bauhaus und sehr, sehr viele mehr – nicht diesen totalen Zusammenbruch verhindern können, der zu millionenfachen Morden führte und in eine nationale Katastrophe?“
Ob man jemals eine Antwort findet? Wichtiger wäre ohnehin, niemals aufzuhören zu fragen.
Die Serienteile:
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2. Lüneburg Deutschland von außen: Prinz Asfa-Wossen
Asserate
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4. Weimar Deutsche Klassik: Geschichte im Kleinen
5. Wittenberg Im Lutherjahr: Was bleibt vom Glauben?
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