Am Montag wurde die Demo aufgrund einer Terrorwarnung abgesagt, doch sonst hat Pegida nirgendwo solchen Zulauf wie in der sächsischen Landeshauptstadt. Erklärungsversuche eines ehemaligen Dresdners.
Gleichen sich die Bilder von damals mit denen, die jetzt wieder zu sehen sind? Sind es dieselben Gesichter, die ich schon vor gut 25 Jahren auf der Straße sah? Als Demonstrieren noch riskant gewesen ist, als die Menschen auf den Straßen noch befürchten mussten, von den „bewaffneten Organen“ verhaftet und „zugeführt“ zu werden?
Ich bin im Herbst 1989 selten in meiner Heimatstadt gewesen, damals lebte ich schon in Leipzig, der Stadt der regelmäßigen Friedensgebete und anschließenden Montagsdemos. Hier habe ich an dem alles entscheidenden Abend des 9. Oktober zum ersten Mal den Ruf „Wir sind das Volk“ gehört. Da hatten sich im etwa 100 Kilometer entfernten Dresden schon die unfriedlichsten Szenen der friedlichen Revolution abgespielt: Pflastersteine gegen Wasserwerfer, Fäuste gegen Gummiknüppel. Bei der Durchfahrt der Flüchtlingszüge in den ersten Oktobertagen war es zu Situationen gekommen, die an einen Bürgerkrieg erinnerten. Und dann, als am 8. Oktober Tausende Dresdner auf der Prager Straße den meist jungen Wehrpflichtigen der Bereitschaftspolizei gegenüberstanden, gab es in Dresden das erste Signal der Entspannung. Überraschend erklärte sich mit dem damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer der erste SED-Funktionär bereit, mit der von den Demonstranten per Akklamation gewählten „Gruppe der 20“ zu sprechen.
Immer wieder frage ich mich, ob es dieselben Menschen sind, die jetzt Montag für Montag mit schwarz-rot-golden eingefärbten Kreuzen und Plakaten gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes demonstrieren, gegen eine Überfremdung, von der in Dresden buchstäblich nichts zu spüren ist. Wie viele von denen, die heute „Lügenpresse, halt die Fresse!“ brüllen, waren im Herbst 1989 schon auf der Straße? Wie viele von denen, die jetzt Stimmung gegen die Unterbringung von Asylbewerbern in einem Hotel im Stadtteil Laubegast machen, haben im Herbst 1989 für Reise- und Meinungsfreiheit demonstriert? Manche der Pegida-Demonstranten sind zu jung – wenn ich mir die Bilder anschauen, sehe ich vor allem mittlere Jahrgänge, also Menschen mit Diktatur-Erfahrung.
Und genau das ist es doch, erklären manche Experten das Dresden-Phänomen: 40 Jahre DDR und kein Westfernsehen. Nur angesichts der anhaltenden Prägung durch die jahrzehntelange SED-Indoktrination im „Tal der Ahnungslosen“ lasse sich erklären, dass eine populistische und in Teilen rassistische und ausländerfeindliche Bewegung in einer Stadt ständig an Zulauf gewinnt, die einen Ausländeranteil von nicht einmal fünf Prozent aufweist. Nur so lasse sich die Wut auf das Fremde und die Fremden erklären, die jederzeit in Gewalt umschlagen könne. Die Wahrheit ist, dass es sehr wohl Rassismus ohne Ausländer geben kann, ebenso wie Antisemitismus auch ohne Juden auskommt.
Trotzdem lässt sich Pegida nicht so einfach als Spätfolge medialer Ahnungslosigkeit erklären; aus eigener Erfahrung weiß ich doch, dass die Menschen in meiner Heimatstadt zu DDR-Zeiten keineswegs uniformiert der DDR-Propaganda ausgeliefert waren. Wir konnten zwar weder ARD noch ZDF empfangen, wohl aber auf Mittelwelle den Deutschlandfunk, der seit 1960 nicht nur ein exzellentes Informationsprogramm ausstrahlte, sondern sich auch um die politische Bildung der DDR-Bürger verdient gemacht hat. „Zitiert und kommentiert aus Ost-Berliner Zeitungen“, die witzig-hintergründige und oft genug entlarvende Presseschau jeweils um 7.35 Uhr, war zum Beispiel in den Schulen und Betrieben, in den Familien und Freundeskreisen ein beliebtes Gesprächsthema. Dass das „Neue Deutschland“ und die anderen Parteizeitungen nur Propaganda lieferten, das wussten wir ebenso wie unsere sächsischen Mitbrüder im benachbarten Leipzig, die die Segnungen des Westfernsehens genießen konnten.
Wie Bilder doch täuschen: Dicht an der Elbe reckt sich die gewaltige Glaskuppel einer Moschee 62 Meter hoch in den sächsischen Himmel. Ein islamisches Gotteshaus in morgenländischer Architektur mit Kuppel und Minaretten als prägender Teil der Dresdner Stadtsilhouette? Bisher hat das die Dresdner nicht gestört, sie sind ganz im Gegenteil stolz auf ihre „Yenidze“, die der Architekt Martin Hammitzsch 1907-09 am Elbufer erbaut hat. Allerdings ist es eine Camouflage, denn bei dem Gebäude handelt es sich keineswegs um eine Moschee, sondern um den ersten vollständig in Stahlbeton ausgeführten Industriebau Europas. In Wahrheit wurde die Dresdner Moschee nämlich als Tabak- und Zigarettenfabrik erbaut, ein Werbegag des Fabrikanten Hugo Zietz, der dort seine filterlosen „Salem-Aleikum-Cigaretten“ produzierte.
Heute dient die „Tabakmoschee“ als Restaurant und Veranstaltungszentrum. Ich glaube übrigens nicht, dass es wirklich die drohende Islamisierung ist, die die Dresdner Demonstranten umtreibt. Weit eher dürften es die Furcht vor dem sozialen Abstieg, vor einer unsicheren Zukunft angesichts der globalisierten Welt sein, die ihnen immer unübersichtlicher und bedrohlicher erscheint.
Aber warum gehen ausgerechnet in Dresden und vorläufig nur in Dresden Zigtausende mit Pegida-Parolen auf die Straße? Und warum stören sich die teilweise vielleicht sogar ehrlich besorgten Bürger nicht daran, dass mit ihnen bekennende Rassisten und Nazis marschieren? Warum sehe ich Akademiker neben Hooligans, warum Ehepaare neben stiernackigen Muskelpaketen? Warum sorgen sie sich nicht um die Unversehrtheit der wenigen türkischen Gemüsehändler und vietnamesischen Änderungsschneider, die es in der sächsischen Hauptstadt gibt? Eine einleuchtende und überzeugende Erklärung wird man dafür kaum finden, wohl aber Indizien, die mit der besonderen Geschichte dieser Stadt und der Mentalität ihrer Bewohner zu tun haben.
Als vor ziemlich genau 25 Jahren der britische Holocaust-Leugner David Irving, der mit einem 1963 erstmals erschienenen Buch über die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 bekannt geworden war, zu einer Lesung in der Stadt erschien, wurde er von Hunderten Besuchern gefeiert. Es sollte noch einige Jahre dauern, bevor Rechtsextremisten Thema und Datum als Propaganda-Instrument zu nutzen begannen. Seit 1998 kam es jeweils am Gedenktag im Februar zu „Trauermärschen“, an denen bald Rechtsextremisten aus der gesamten Bundesrepublik teilnahmen. Erst die immer größeren Gegendemonstrationen, die auch von kirchlichen Gruppen, Gewerkschaften und Parteien unterstützt wurden, konnten in den vergangenen Jahren die Aufmärsche jener verhindern, die die „Ehre der Opfer des alliierten Bombenterrors“ wiederherstellen wollten.
Viel stärker als in anderen Städten ist die Zerstörung Dresdens drei Monate vor Kriegsende im öffentlichen Bewusstsein seiner Bewohner verankert. Aber auch international wird der 13. Februar 1945 als ein traumatisches Datum wahrgenommen, an dem eine bis dahin weitgehend unzerstörte deutsche Großstadt in Schutt und Asche sank. In anderen Städten geschah das im Lauf von Wochen und Monaten, in Dresden in einer einzigen Nacht. Das mag einer der Gründe sein für die besondere Erinnerungskultur, die sich in Dresden schon kurz nach Kriegsende zu bilden begann. An jedem 13. Februar läuten zum Zeitpunkt des Alarms die Glocken aller Kirchen. In der Kreuzkirche führt der Kreuzchor die Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ auf, die Rudolf Mauersberger unter dem unmittelbaren Eindruck der Zerstörung geschrieben hatte. Obwohl das Datum in der DDR politisch vereinnahmt wurde, hatte die Mehrheit der Dresdner nicht vergessen, dass dem eigenen Leid das fremde vorausgegangen war. Dass der 13. Februar eine Folge des vom deutschen Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruchs gewesen ist.
Doch je länger das historische Geschehen zurückliegt, desto kontroverser wird darüber gestritten. Während die linke Antifa „Keine Träne für Dresden“ vergießen will und die Stadt zum Nazi-Nest erklärt, skandieren die Neonazis Parolen vom „Bomben-Holocaust“. Dabei war die historische Situation durchaus widersprüchlich: Bei den wichtigen Reichstagswahlen von 1932 konnte die NSDAP in Dresden kein besonders gutes Ergebnis einfahren. Unter den 39 Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern belegte die sächsische Metropole Platz 16. Etwas anders sieht es aus, wenn man Dresden mit Städten seiner Größenklasse vergleicht, nämlich mit Köln, Leipzig, München, Breslau, Essen und Frankfurt am Main. Hier stand die sächsische Hauptstadt nach Breslau auf Platz 2. 1937 wurde Dresden durch Erlass Hitlers in die Reihe jener Städte aufgenommen, die durch aufwendige städtebauliche Maßnahmen im Sinne der NS-Ideologie umgestaltet werden sollten. Zu diesen „Führerstädten“ gehörten aber auch Linz, Berlin, München, Hamburg, Nürnberg und Landsberg am Lech. Der britische Historiker Frederick Taylor bezeichnet Dresden in seiner 2004 erschienenen Untersuchung über die Zerstörung als „nazifizierte Stadt“, doch dürfte es damals keine deutsche Großstadt gegeben haben, für die diese Bezeichnung nicht gegolten hätte.
Die Selbstwahrnehmung der Dresdner, sich in einer Sonderrolle zu befinden, bezieht sich nicht nur auf die Zerstörung, sondern gründet sich auf die einstige kulturgeschichtliche Bedeutung. Durch den Übertritt des sächsischen Kurfürsten August des Starken zum Katholizismus öffnete sich das Mutterland der Reformation seit Anfang des 18. Jahrhunderts kulturell und geistig nach Süden und Westen. Dresden entwickelte sich im Augusteischen Zeitalter von einem durchschnittlichen mitteldeutschen Fürstensitz zu einer der glanzvollsten Residenzen Europas mit prachtvollen städtebaulichen Inszenierungen und kostbaren Kunstsammlungen, die bis heute Weltrang genießen.
Über August den Starken (1670–1733) sprechen viele Dresdner so selbstverständlich als sei er ein naher Verwandtet. Und das Bewusstsein um den Reichtum der eigenen Kultur reicht weit über das bildungsbürgerliche Milieu hinaus, ist allerdings oft genug gepaart mit einer bemerkenswerten Kenntnislosigkeit dessen, was sich jenseits der Stadt befindet. Dass der barocke Zwinger von Matthäus Daniel Pöppelmann erbaut wurde, weiß man nicht nur, sondern hält Besucher, denen das nicht geläufig ist, für grenzenlos ungebildet. Andererseits haben viele kulturbeflissene Dresdner zum Beispiel noch nie etwas von dem nicht minder bedeutenden Balthasar Neumann gehört, dem Erbauer der Würzburger Residenz.
Auch mit Widersprüchen, Brüchen und Gegensätzen können viele Bewohner der Stadt nicht gut umgehen. Die Avantgarde hatte es in Dresden immer schwer, die expressionistische Künstlervereinigung „Brücke“ wurde zwar hier gegründet, doch Kirchner und Co. hielten es in der Stadt nicht lange aus und zogen bald nach Berlin. Am konservativen Zeitgeist scheiterte noch Anfang der 1990er-Jahre auch der US-Künstler Frank Stella, dessen gewagtes Kunsthallen-Projekt unweit des Zwingers auf Empörung stieß. Überhaupt trifft das Klischee des gemütlichen Sachsen gerade auf die Dresdner nur bedingt zu. Die Unversöhnlichkeit, mit der in Dresden über Sachthemen gestritten wird, ist für Außenstehende oft verstörend. Das betrifft schon nebensächliche kommunalpolitische Entscheidungen, umso mehr aber große Projekte wie etwa die Waldschlösschenbrücke, deren letztlich durchgesetzter Bau der Stadt nicht nur den Entzug des Unesco-Welterbe-Titels eintrug, sondern zu persönlichen Zerwürfnissen, ja sogar Feindschaften führte, die bis heute nicht beigelegt sind.
„Das ist unser Schandfleck“, sagt der Taxifahrer bei meinem jüngsten Dresden-Besuch, als neben der Brühlschen Terrasse das Gebäude der 2001 fertiggestellten Neuen Synagoge auftaucht. Damit meint er nicht etwa die Tatsache, dass der Vorgängerbau am 9. November 1938 von den Nationalsozialisten zerstört wurde, er stört sich vielmehr an der Architektur des von dem Saarbrücker Büro Wandel, Höfer und Lorch + Hirsch in Form eines in sich verschobenen Kubus errichteten Gebäudes. Dass dieses modere Bauwerk, in dem die Erinnerung an ein unheilvolles Geschehen mitschwingt, einen notwendigen Akzent im sonst fast überall historisierend wiederaufgebauten Stadtbild setzt, quittiert er kopfschüttelnd. Diskutieren will der Mitvierziger mit mir nicht, von Journalisten hält er nichts. Darin ist er sich mit der Mehrheit der Pegida-Demonstranten einig, von denen viele nicht nur über die „Lügenpresse“ schimpfen, sondern auch das Wort „Systempresse“ gebrauchen.
Sie könnten durchaus wissen, woher dieses Wort stammt, denn eine eben veröffentlichte Studie der Technischen Universität Dresden legt nahe, dass es sich bei etwa 70 Prozent der Pegida-Demonstranten um Angehörige der Mittelschicht handelt, um Menschen mit Ausbildung und Beruf. Mancher von ihnen wird wohl zu Hause im Bücherschrank noch den zu DDR-Zeit mehrfach aufgelegten Reclam-Band stehen haben, den der jüdische Romanist Victor Klemperer unter dem Titel „LTI“ veröffentlicht hat. LTI steht für Lingua Tertii Imperii und ist eine scharfsinnige Analyse der Sprache des Dritten Reichs, der sich Klemperer besonders intensiv widmete, nachdem ihn die Dresdner TH aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze entlassen hatte.
„Wenn der Nationalsozialist ‚das System‘ sagt, so meint er ausschließlich das System der Weimarer Verfassung. Das Wort ist in dieser Spezialanwendung der LTI – nein, vielmehr erweitert zur Bezeichnung des gesamten Zeitabschnittes von 1918 bis 1933 – sehr rasch populär geworden“, schrieb Klemperer, der erst in den 1990er-Jahren durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher posthum weltberühmt wurde. Der Autor gehörte zu den letzten Dresdner Juden, auch für ihn stand das Datum der Deportation bereits fest.
Victor Klemperer ist Teil der Kultur Dresdens, er ist bis heute populär, und in viele Buchhandlungen kann man seine im Aufbau-Verlag erschienenen Tagebücher kaufen. Darin beschreibt er auf beklemmende Weise, wie es sich anfühlt, in dieser Stadt ausgegrenzt zu werden und nicht dazugehören zu dürfen. Dass er den Holocaust überlebte, verdankte Klemperer ausgerechnet dem Bombenangriff vom 13. Februar 1945, der es ihm ermöglichte unterzutauchen und sich in den letzten Kriegsmonaten versteckt zu halten. Wer Klemperers Tagebücher in diesen Tagen wieder liest, und die Gebildeten unter den Pegida-Demonstranten sollten es durchaus tun, findet darin die Überlebensgeschichte eines Dresdner Juden, der kaltherzige Verfolgung erlitten hat und in leider nur seltenen Fällen auch das, was zu den wichtigsten Werten des Abendlandes gehört: Gesten der Mitmenschlichkeit.