Zur Frage, was die Ängste Einzelner für eine Gesellschaft bedeuten, hat der Soziologe Heinz Bude kürzlich ein Buch veröffentlicht – und damit fast schon vorausgesagt, was die Anschläge in Paris in uns allen auslösten. Und wie man damit umgeht
Hamburg. Die Trauer war noch frisch, die Wunde weit offen, der Schrecken stand den Menschen in ihre Gesichter geschrieben, nicht nur in Frankreich, sondern weltweit – schon wurde die erste Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe publik. Marine Le Pen hat nicht lang gefackelt. Demagogen wie sie haben es leicht, in einer Zeit wie dieser die Angst der Massen übelst für eigene Zwecke zu missbrauchen.
Die „Gesellschaft der Angst“ ist das Thema des deutschen Soziologen Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Er beschreibt unter eben diesem Titel in seinem letzten Buch, erschienen im vergangenen Herbst, wie Angst zur treibenden Kraft der Gesellschaft wird. Ein gefährliches Phänomen, denn Angst ist selten ein kluger Ratgeber. Wir sprachen mit Bude über die Wirkung des Anschlags von Paris, über Hass und Hilflosigkeit. Einer seiner zentralen Begriffe ist ausgerechnet: die „Hoffnung“.
Hamburger Abendblatt: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von dem Attentat in Paris hörten?
Heinz Bude: Dass das der Wahlsieg für Marine Le Pen ist – oder dass zumindest die Gefahr besteht. Ein französischer Kollege von mir, der seit 20 Jahren dort in den Vorstädten forscht, wollte lange Zeit nicht von „Gettos“ reden. Vor drei Jahren aber änderte er seine Meinung. Und warum? Es herrscht dort nur noch der Diskurs von Gewalt und Sex. Auch die überwältigende Mehrheit der Franzosen mit einem muslimischen Hintergrund hat Angst vor Leuten, die als extremistisch und islamistisch in ihrer Umgebung bekannt sind. Das Milieu dieser Angst sind die Vorstädte.
Ihr letztes Buch haben Sie „Gesellschaft der Angst“ genannt. Erschienen ist es vor Pegida, vor dem Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“. Haben Sie sich inzwischen selbst erschrocken, was für ein prophetischer Titel das war?
Bude: Genau so ist es. Ich wollte eine Situation unausgesprochener Unsicherheit unserer Gesellschaft schildern. Mir war aber nicht klar, dass ich so sehr recht behalten würde, wie es sich jetzt gezeigt hat. Sicher ist das allermeiste von dem, was momentan in Dresden passiert, ein ostdeutsches Phänomen. Thomas de Maizière hat recht, es ist eine regionale Verdichtung, allerdings eines allgemeinen Problems. Unter der Decke unserer Sozialstruktur brennt es an manchen Punkten. Es geht uns insgesamt beängstigend gut, aber es gibt Gruppen, die sich zurückgesetzt und übergangen fühlen.
Wenn es auch in Deutschland unter der Decke brennt und dieser Brand wirtschaftlich nicht gelöscht werden kann – wie denn dann?
Bude: Gar nicht. Wir erleben das Entstehen eines neuen Proletariats in Deutschland. Das sind nicht die Hartz-IV-Empfänger, an denen man lange Zeit die soziale Misere unserer Gesellschaft festgemacht hat. Wir haben aber ein neues Dienstleistungsproletariat, das Ihnen beispielsweise die Amazon-Pakete nach Hause bringt. Leute, die normal und in Vollzeit hart arbeiten, aber nur 900 Euro netto verdienen. Diese Gruppe wächst ununterbrochen, und sie ist die andere Seite einer neuen Klasse, der es relativ gut geht. Doppelverdiener-Haushalte brauchen jemanden, der bei ihnen putzt, brauchen jemanden, der die Pakete bringt und die Gebäude sichert. Dieses Proletariat hat jedoch das Gefühl, dass die Zukunft für sie gar nichts bringt.
Die Hilflosigkeit dominiert. Man kann gar nichts dagegen tun?
Bude: Zwei Dinge sind für das Angstmilieu unserer Gesellschaft sehr wichtig: Wir haben hier keine klassischen „Verliererkulturen“ mehr, die sich dadurch auszeichneten, dass sich Leute zusammentaten, die schlecht wegkamen: Du bist nicht allein, was dir passiert, passiert auch vielen anderen. Die Klassiker waren die Sozialdemokratie – für Johannes Rau „die Schutzmacht der kleinen Leute“ – und die katholische Kirche. Wenn Sie solch eine „Verliererkultur“ als Hintergrund haben, haben Sie Wut. Aber keinen Hass. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied. Wut hat immer noch die Orientierung auf einen anderen Zustand, den man gemeinsam erreichen kann. Hass dagegen individualisiert. In der gesamten OECD-Welt werden Hassmilieus immer wichtiger – und zwar Hass als Hass aufs System. Und das ist politisch gefährlich.
Was macht so ein Attentat wie das in Paris aus einer Gesellschaft, die sich ihrer selbst ohnehin nicht mehr sicher ist?
Bude: Das ist eine ganz furchtbare Situation. Jetzt müsste eigentlich deutlich werden, dass eine Gesellschaft Brücken braucht zwischen Menschen, denen es unterschiedlich gut geht. Die eine unterschiedliche Idee ihrer Zukunft haben. Nur dann kann sich eine Gesellschaft innerlich von einem so furchtbaren Attentat erholen. Das ist aber sehr schwierig, wenn alle das Gefühl haben, sie seien von den anderen ausgeschlossen und nicht mehr mit an dem Tisch, wo beschlossen wird, wie die Gesellschaft sein wird.
Das klingt, als würden die üblichen Bekenntnisse und Solidaritätsdemos nicht ausreichen?
Bude: Das glaube ich auch. Es ist sehr wichtig, dass muslimische Organisationen und die christlichen Kirchen ihre Abscheu gemeinsam deutlich machen. Der Präsident des EU-Parlaments hat gesagt: „Wir fühlen mit der französischen Nation.“ Das ist bemerkenswert, von einem Sozialdemokraten einen solchen Satz zu hören. Das war ein Satz, der mich innerlich berührt hat. Auf solche Worte kommt es momentan an.
Wenn dumpfe Vorurteile so bestätigt werden wie jetzt durch den Anschlag in Paris, was signalisiert das ihren Urhebern?
Bude: Das mit den Vorurteilen ist eine komplizierte Sache. Studien haben gezeigt: Etwa 35 Prozent der Deutschen sind islamophob disponiert – aus unterschiedlichen Gründen. Es gibt die klassischen Verlierer, von denen es nicht anders zu erwarten ist, weil es um Arbeitsplätze geht. Dann die, denen es relativ gut geht, die eine Art von Selbstgerechtigkeit entwickelt haben und sich darin nicht stören lassen wollen. Und eine weitere Gruppe, etwa 13 Prozent, die sich als weltoffen und modern ansieht, aber das Gefühl hat, sie sei durch wirtschaftliche Entwicklungen in eine Situation gekommen, unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Deren Weltanschauung ist abgrundtief pessimistisch, so entsteht ein diffuses Hasspotenzial.
Wie tritt man diesen Ängsten am besten entgegen?
Bude: Mit Solidarität. Das ist ein sehr merkwürdiger, etwas angestaubter Begriff, er ist aber sehr viel wichtiger als der Begriff der Gerechtigkeit.
Sie haben in Ihren Analysen auch mit einem Sartre-Zitat gearbeitet: „Das Einzige, was Halt verspricht, ist der andere.“ Bei einem Islamophoben kommen Sie damit vermutlich nicht allzu weit.
Bude: Das ist schwierig. Die simpelste Frage, die man immer wieder stellen muss, lautet: Wie denkt ihr euch eigentlich, wie es hier in 30 Jahren aussehen soll? Wenn dann nur apokalyptische Vorstellungen kommen, und die meisten Islamophoben haben keine anderen, kann man entgegnen: Aber Apokalypse ist doch keine Idee für eure Kinder und Enkel. Wir kommen gemeinsam nur durch, wenn wir einige Leute mitnehmen, die uns vielleicht nicht so gut gefallen.
Das klingt fast zu vernünftig. Wenn man über Vorstufen von Hysterie und Paranoia spricht, greift Vernunft aber nicht mehr. Was hilft dort?
Bude: Was wir im Augenblick in Dresden erleben, ist Ausdruck eines demagogischen Effekts mit der Ansage: Wir werden belogen und betrogen, und niemand traut sich zu sagen, wie es in Wirklichkeit aussieht. Wir sind das Volk, und wir verteidigen das Abendland gegen seine Feinde. Von Adorno gibt es den wunderbaren Satz „Wo Abwehr ist, ist Rettung“. Man braucht als Politikerin oder Politiker aber eine ziemlich große innere Kraft, um Angsttendenzen in unserer Gesellschaft zum Thema zu machen. Angela Merkel wird den Teufel tun. Sie ist der Meinung, Angst sei nicht ihr Thema, sondern nur das von Demagogen. Davon ist sie tief überzeugt, und das verstehe ich auch.
Es ist aber trotzdem verkehrt?
Bude: Ich glaube, ja. Wenn man über Angst spricht, kann es schnell kein Halten mehr geben. Aber es kann sein, dass für das Regime der ewigen Gegenwart, das Angela Merkel so wunderbar beherrscht, die Tage gezählt sind.
Die von Ihnen erwähnte Solidarität kann ebenfalls trügerisch sein. Die Pegida-Demonstranten sind durchaus solidarisch – mit sich selbst allerdings. Und da kann es gefährlich werden.
Bude: Stimmt. Wenn man über emotional besetzte Begriffe redet, ist immer eine solche Gefahr vorhanden.
Unser Angstniveau ist nach diesem Anschlag gestiegen. Die Angst der „anderen“, der gewaltbereiten Isla-misten, dürfte jetzt geringer geworden sein. Was bedeutet dieser Anschlag für den Verlust der Angst bei seinen Sympathisanten?
Bude: Es hat ja nicht nur die sogenannte biodeutsche Mehrheitsklasse Angst, auch die Muslime haben Angst. Wir hatten mit dem NSU eine rechte Untergrundorganisation, die wahllos Leute erschossen hat, aus reinem Hass. Das sollten wir nicht vergessen. Wir sollten durchaus vorsichtig sein und keine Privilegierung der Angst vornehmen.
Sie klingen so, als ob Sie ein solches Ereignis fast schon für überfällig halten und glauben, dass es jetzt automatisch so weitergeht.
Bude: Nein, das glaube ich nicht. Wir haben mit Ausbrüchen von Hass zu rechnen. Und von Gewalt. In Europa hat im früheren Jugoslawien ein Krieg vor unserer Tür stattgefunden. Wir werden also nicht von einer Insel der Seligen vertrieben. Wir dürfen nur nicht denken, dass diese Gefährdungen irgendwann verschwinden. Es braucht zivilen Mut, diese Haltung gegenüber sich selbst zu bewahren.
Eint diese Nach-Anschlags-Angst, oder spaltet sie weiter?
Bude: Das kommt darauf an, was wir daraus machen. Gibt es eine Lösung des Rätsels? Nein, die gibt es nicht. Es gibt keinen Weg ohne Gefahren und keine Verständigung ohne Missverständnisse. Wir sind eine Gesellschaft, die nicht mehr davon ausgehen kann, dass sie das Schlimmste hinter sich hat. Deutschland hat etwa bis zur Zeit von Helmut Kohl aus dem Grundgefühl gelebt, das Schlimmstmögliche – der Völkermord und der verlorene Krieg – sei bereits passiert. Jetzt aber haben die Generationen der zwischen 30- und 50-Jährigen das Gefühl: Das Schlimmste liegt noch vor uns.
Sie haben selbst Kinder: Wie bringen Sie denen dennoch Optimismus bei?
Bude: Optimismus kann man niemandem beibringen. Die ewigen Optimisten können einem auch auf die Nerven gehen. Hoffnung finde ich besser. Viele Jüngere üben sich in der Vollendung der Resignation, die haben einen entspannten Fatalismus. Ich sehe das an meinen Studenten. Leistungsbereit, intelligent, aufmerksam, aber wenn man nach der Zukunft fragt, kommt oft: Das wissen wir jetzt auch nicht so genau.
In solchen Krisenzeiten können Politiker alles gewinnen, wenn sie sich klug verhalten. Oder alles verlieren.
Bude: Richtig. Aber zum Glück sind wir nicht in Frankreich. Wir müssen auch mal die Kirche im Dorf lassen: Bei Pegida handelt es sich um 17.000 Menschen in Dresden. In Kassel waren es 50.
Das Problem ist aber, dass diese Menschen genau das wollen: die Kirche schön überschaubar im Dorf lassen. Sind die Ängste, um die es ihnen geht, berechtigt?
Bude: Sie sind berechtigt. Ängste sind immer berechtigt.
Jede Angst?
Bude: Ja. Haben Sie schon mal versucht, Ihrer alten Mutter die Angst vor Einbrechern auszureden mit dem Argument, die Einbruchquote in der Gegend ist schon seit 30 Jahren zurückgegangen? Das kriegen Sie nicht hin. Sie müssen also sagen: Okay, ich verstehe, dass du dich in deinem Alter schwächer fühlst und deshalb mehr Angst hast. Und es gibt in der Tat Menschen in unserer Gesellschaft, die sich schwächer fühlen wegen ihrer sozialen Position. Das ist nun mal so. Was hilft, ist der schon erwähnte Begriff der Hoffnung. Sie heißt: Es wird sich schon noch etwas ergeben, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Viele glauben: Kapitalismus ist nur noch mit Krise zu haben, Europa geht vor die Hunde... Doch es gibt viele Möglichkeiten. Wenn Sie einen politischen Satz zur richtigen Zeit sagen, können Sie alles verändern.