Gegen mörderische Intoleranz müssen wir die Kraft von Demokratie und Freiheit setzen
Im Jahre 1993 stellte der amerikanische Politikwissenschaftler und Regierungsberater Samuel Huntington in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ die brisante These auf, dass es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der westlichen und der islamischen Kultur gebe und stellte die Frage, ob dieser Antagonismus „unvermeidlich“ auf eine gewaltsame Konfrontation zusteuere. Aus der ursprünglichen Fragestellung wurde das Totschlagwort vom „Kampf der Kulturen“.
Unter dem Eindruck der heimtückischen Morde von Paris und in Erinnerung an die Terrorakte von 2001 und viele weitere könnte man vermuten, dass Huntington recht hatte. Doch das täuscht. Zwar gibt es unleugbare Unterschiede bezüglich der Ausformung von Religionen in westlichen und islamischen Staaten. Doch eine Konfrontation ist alles andere als unvermeidbar. „Den“ Islam gibt es ohnehin nicht; die gelebte Wirklichkeit dieser Religion ist zwischen Marokko und Indonesien ungeheuer vielfältig, und nur ein winziger Prozentsatz der 1,6 Milliarden Muslime hängt militanten Strömungen an.
Das Gefährliche an Huntingtons These ist, dass sie den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hat. Quer durch Europa glauben inzwischen Hunderttausende Menschen, dass man gezwungen sei, in diesem Zivilisationskampf in die Offensive zu gehen. Vier Millionen Muslime leben in Deutschland – eine kleine Minderheit unter den 81 Millionen Bundesbürgern. Dabei haben sich die westlichen Gesellschaften als Folge islamistischer Terrorakte schon selbst beunruhigend verändert; am augenfälligsten geschah dies in den USA mit der massiven Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten wie im „Patriot Act“. Jeder Anschlag führt zu neuen Sicherheitsregularien, die unsere Zivilisation Zug um Zug in ein eisernes Korsett sperrt, das geeignet ist, genau jene Werte einzuengen, die wir ständig preisen. Das Blutbad von Paris zeigt indessen, dass selbst Polizeibewachung und Zugangscodes Terroristen mit genügend krimineller Energie nicht aufhalten können. Militante Dschihadisten haben in der Regel einen Vorteil gegenüber vielen westlichen Bürgern: Sie glauben an etwas und dies mit ganzer Überzeugung.
Es ist unsere Kultur der Beliebigkeit, die uns unsicher macht und die manchen jungen Überforderten in die Arme von Salafisten treibt. Es kann, aber muss nicht unbedingt religiöses Feuer sein, das uns widerstandsfähig und couragiert machen kann. Man kann auch glauben an die Kraft der Demokratie, der Freiheit und Toleranz. Viele Muslime in Deutschland und anderen Ländern tun übrigens genau das. Insofern ist die Stoßrichtung von Bewegungen wie Pegida ein groteskes Missverständnis, denn dem Westen droht keineswegs eine Islamisierung. Abgesehen davon, dass die islamische Welt in einem ungleich höheren Maß von der westlichen Kultur beeinflusst wird als umgekehrt, droht eher dem Islam eine Erosion durch militante Entartungen. Wenn wir nach Paris blicken, sehen wir keinen großflächigen Kulturkampf, sondern nur ein paar mörderische Verlierer. Allerdings gibt es im Islam hochaggressive Randströmungen. Und die Behauptung von Minister Schäuble, der Anschlag von Paris habe nichts mit dem Islam zu tun, stimmt nicht. Der Islam hat den schmerzlichen Prozess der Aufklärung gegen religiöse Widerstande noch vor sich. Auch Muslime sollten verstehen, dass Satire – selbst dann, wenn sie die Grenzen des Anstands verletzt, wie das beim Magazin „Charlie Hebdo“ leider öfter mal der Fall war – ein gesellschaftliches Ventil darstellt.
Wir alle sind Charlie. Denn der wahre Kampf der Kulturen ist ein ganz anderer. Seine Fronten verlaufen nicht zwischen Christen oder Juden und Muslimen. Sie verlaufen zwischen uns und menschenverachtender, mörderischer Intoleranz.