25 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR: Leserinnen und Leser von „Thüringer Allgemeine“ und Hamburger Abendblatt diskutierten auf der Wartburg über den Stand und die Zukunft der Einheit
Eisenach. Meinungsfreiheit war eine zentrale Forderung der friedlichen Revolution, mit der die Ostdeutschen vor einem Vierteljahrhundert die SED-Herrschaft gestürzt und damit die Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung geschaffen haben. Aber welche Meinungen haben die Menschen heute in Ost- und in Westdeutschland über die Gesellschaft, in der sie seit 25 Jahren gemeinsam leben? Genau darum ging es beim „Parlament der Einheit“, zu dem sich im Vorfeld des Feiertages 24 Ostdeutsche und 24 Westdeutsche auf der Wartburg auf Einladung der „Thüringer Allgemeinen“ und des Hamburger Abendblatts getroffen haben. Für die Leser, die von den beiden Regionalzeitungen aus einem großen Interessentenkreis ausgelost wurden, war es ein Perspektivwechsel, als sie für einen Tag die Rolle von Parlamentariern übernahmen. Als Diskussionsgrundlage diente ein zuvor erarbeitetes Papier mit sieben Thesen, von denen aber letztendlich nur fünf angenommen wurden.
Ein Perspektivwechsel war es auch für Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt, die nach ihrem Grußwort ebenso in die Rolle des Zuhörers wechselte, wie Paul Josef Raue, der Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen“, und Berndt Röttger, der als Mitglied der Abendblatt-Chefredaktion die Abgeordneten begrüßte. Von da an lag die Verantwortung allein in den Händen der beiden Parlamentspräsidenten, die jeweils aus Hamburg und Thüringen kamen und das Plenum gemeinsam leiteten. Im stilvollen Wappensaal des Wartburghotels saßen die Hamburger Abgeordneten zunächst auf der rechten, die Thüringer auf der linken Seite. Aber schon zu Beginn zeigte sich, dass eine klare Trennung zwischen „Ossis“ und „Wessis“ nicht mehr so leicht zu ziehen ist, zumal einige der Hamburger Abgeordneten ostdeutsche Wurzeln haben, andererseits mehrere Thüringer über längere Zeit in einem der alten Bundesländer gelebt und gearbeitet haben. Und so verwundert es nicht, dass schon die erste These, in der „an alle Bürger, vor allem im Westen“ appelliert wurde, „die Wörter ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ nicht mehr zu benutzen, um die Einheit zu stärken“, kontrovers diskutiert wurde.
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Man solle sich doch eher auf die landsmannschaftliche Prägungen besinnen, von Thüringern und Hamburgern, Bayern und Mecklenburgern sprechen, empfahl der Hamburger Volker Borowski, während Hans-Ulrich Klemm aus Eisenach meinte, die Bezeichnungen ließen sich im Alltag nicht einfach verhindern. Auch der Hamburger Peter Deutsch meinte, dass man diese umgangssprachlichen Worte nicht verbieten könne. Dass sie die Lebenswirklichkeit vieler Menschen jedoch nur unzureichend abbilden, brachte die Thüringerin Christine Lege auf den folgenden Nenner: „Ich will weder ein Wessi werden, noch ein Ossi bleiben.“ These eins wurde mit Mehrheit angenommen, allerdings mit einer veränderten Formulierung: Nun wird nicht mehr „vor allem“ an die Westdeutschen, sondern an alle Bürger appelliert, die Bezeichnungen nicht mehr zu benutzen.
Drei Minuten Redezeit für angemeldete Debattenbeiträge und eine Minute für Zwischenfragen sah das Regularium vor. Erstaunt registrierte einige Rednern, wie schnell drei Minuten vergehen können. Die Parlamentspräsidenten Aya Isabel Kleine (Hamburg) und Wolfgang Jörgens (Thüringen) setzten die Regeln zwar nicht allzu strikt durch, sorgten aber für einen reibungslosen Fortgang der Debatte. Gerade wenn die Abgeordneten ihre eigenen Geschichten erzählten, von Hoffnung und auch von Enttäuschungen berichteten, erlebte das „Parlament der Einheit“ seine stärksten Momente.
„Ich habe damals beim Zelten in Ungarn von der Grenzöffnung gehört. Meine Frau und ich haben überlegt, ob wir mit den Kindern gleich flüchten. Wir haben uns anders entscheiden, sind in die DDR zurückgefahren, mit dem festen Vorsatz, uns zu engagieren und die Dinge vor Ort zu verändern“, sagte der Thüringer Horst Jaeckel, der nach der Wende zum Bürgermeister seiner Gemeinde gewählt wurde. Seiner Meinung nach ist die Wiedervereinigung weitgehend positiv verlaufen, vor allem im Vergleich mit den osteuropäischen Ländern, die den Übergang von der Diktatur zur Demokratie unter ungleich schwierigeren Bedingungen vollzogen.
Wie unterschiedlich die Erfahrungen der Nachwendezeit gewesen sind, zeigte die Diskussion um die zweite These, in der die Schaffung gleicher Lebensbedingungen, „vor allem bei Renten und Löhnen“ gefordert wurde. Dass rechtsstaatliche Regelungen oft genug mit dem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden kollidieren, brachten nicht nur Thüringer, sondern auch mehrere Hamburger Abgeordnete zum Ausdruck. Zum Beispiel der Norderstedter Helfried Dietrich, der ursprünglich aus der DDR stammt, sich aber aufgrund der in der Nachwendezeit beschlossenen rentenrechtlichen Regelungen nachträglich bestraft fühlt. Oder die Hamburger Lehrerin Angelika Hebben-Beck, die eine Anstellung in Mecklenburg-Vorpommern fand und feststellen musste, dass sie dort für die gleiche Arbeit weniger Lohn und verminderte Rentenansprüche erhielt. Die Abgeordneten einigten sich schließlich auch auf die Annahme der zweiten These, forderten aber in Abänderungen der ursprünglichen Formulierung, nicht mehr die Schaffung gleicher Lebensbedingungen, wohl aber die Angleichung von Löhnen und Renten.
Nach der Mittagspause zeigte sich auch äußerlich ein verändertes Bild: Mit Andreas Lindner (Thüringen) und Hans Krech (Hamburg) gab es zwei neue Parlamentspräsidenten. Nun saßen auch ost- und westdeutsche Abgeordneten nicht mehr getrennt, sondern hatten sich nach den privaten Gesprächen während der Pause gemeinsame Plätze gesucht. „Wir bitten die Menschen im Westen, die Lebensleistungen der Ostdeutschen anzuerkennen und ihre Erfahrungen zu nutzen – und umgekehrt“, hieß die dritte These. Wieso, fragte Hans Erich Müller aus Thüringen, müsse man darum bitten. Es gehe vielmehr darum, die Menschen im persönlichen Kontakt zu überzeugen. „Ich will mir nicht ständig erklären lassen, wie ich in der DDR gelebt habe. Und ich will mich auch nicht ständig dafür entschuldigen müssen, dass ich in der DDR gelebt habe“, sagte die Thüringerin Ilka Ledermann in einem sehr emotionalen Beitrag. Der vom Abendblatt nominierte Peter Deutsch meinte: „Ich erkenne die Lebensleistung jedes Menschen an, egal woher er kommt.“ Auf die Frage, was die Westdeutschen von den Ostdeutschen lernen können, antwortete Sven Soederberg aus Weimar: „Wer in der DDR gelebt hat, musste eine besondere Form der Kreativität lernen, nämlich: aus wenig viel zu machen.“ Während These drei mehrheitlich angenommen wurde, stieß die vierte These, in der gefordert wurde, die Abwanderung aus dem Osten in den Westen zu stoppen, auf breite Ablehnung, interessanterweise vor allem bei jungen Abgeordneten. Das klinge ja fast, als ob es hier um „Heimatvertriebene“ gehe, monierte der 1983 geborene Sven Soederberg, und fügte hinzu: „Es ist für mich lebenswert, in Thüringen zu wohnen, das könnte aber auch anderswo sein. Ich lebe hier, weil ich hier meine sozialen Bezüge habe, die Landschaft und die Natur mag. Die Abwanderung aus den neuen Ländern wird sich mit der Zeit geben.“
Auch andere Thüringer berichteten von Freunden und Verwandten, die jetzt in anderen Teilen Deutschlands leben als eine Erfahrung von Normalität, zumal es auch Westdeutsche gebe, die in Thüringen heimisch geworden seien. Mit großer Mehrheit wurde die vierte These abgelehnt.
Nicht wenige Abgeordnete empfanden die fünfte These, in der „vor allem die Ostdeutschen“ aufgefordert wurden, „sich stärker zu engagieren, um Demokratie zu stärken“ als Provokation. „Dass man mit Demokratie wirklich etwas erreichen kann, haben wir Ostdeutschen 1989 vorgelebt“, sagte der Thüringer Manfred Krause, der sich als „typischen DDR-Bürger“ bezeichnete. Und auch der 1982 geborene David Möller, Thüringer und Rennrodel-Weltmeister von 2004, sah das ähnlich: „Ich bin stolz auf die Menschen, die 1989 auf die Straße gegangen sind, um Demokratie zu erkämpfen. Das sollte auch jüngere Menschen motivieren, sich heute zu engagieren.“ Angesicht der auch in den alten Bundesländern oft niedrigen Wahlbeteiligung, machten mehrere Redner auf Defizite im Westen aufmerksam. Der Hamburger Jürgen Lüken meinte, die Erfahrung mit der Totalüberwachung durch die Stasi im Osten sollte heute alle Deutschen sensibel machen für die Gefahren der Video- und Handyüberwachung, die längst zum Alltag gehöre. „Wir fordern alle Deutschen auf, sich stärker zu engagieren, um Demokratie zu stärken“, lautete die abgeänderte These, die schließlich mit Mehrheit angenommen wurde.
Weitgehend einig waren sich ost- wie westdeutsche Abgeordnete über die sechste These, in der die Politik zum Abbau von Bürokratie aufgefordert wird. Nach kurzer Diskussion nahm das Plenum diesen Vorschlag sogar einstimmig an. Dafür führte die siebte und letzte These am frühen Nachmittag noch einmal zu einer kontroversen, sehr emotional geführten Debatte. Die Ostdeutschen, heißt es da, sollten nicht länger jammern, sondern „sich selbstbewusst als Revolutionäre zeigen“. Was sich unter Jammern verstehen lässt, erwies sich dabei durchaus als strittig. Mehrere Abgeordnete nannten die Entwicklung, die nach der Wiedervereinigung in ganz Deutschland zum Abbau von sozialen Standards geführt habe, als berechtigten Grund für Klagen. Ausgerechnet mehrere Hamburger nahmen die Ostdeutschen vor dem Vorwurf des Jammerns in Schutz. Doch dann sorgte der Thüringer Emanuel Beer für Zündstoff, als er sagte: „Ich finde die These richtig. Was ich heute morgen an Gejammer gehört habe, das hat mir fast die Schuhe ausgezogen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn die Hamburger wieder nach Hause gefahren wären.“
Dass sich hier keine Einigkeit erreichen ließ und die letzte Abstimmung ein Patt erbrachte, war nicht verwunderlich, als interessant erwies sich aber die Tatsache, dass die Gegensätze keineswegs zwischen Ost und West, sondern quer durch die „Fraktionen“ verliefen. „Politiker in der Demokratie zu sein, ist echt schwer“, stöhnte ein junger Thüringer. Und Dirk Böning, der ebenfalls aus Thüringen stammt, sprach etwas aus, das auch andere Delegierten dieses „Parlaments der Einheit“ wohl so empfunden haben werden: „Wir sind uns ähnlicher als manche glauben mögen. Wir ticken eigentlich gleich.“