Die Rede der aus Thüringen stammenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag Katrin Göring-Eckardt auf der Wartburg.
Eisenach. Ich finde sehr spannend, dass Sie ein Manifest verabschieden. Ich nehme an, es wird kein kommunistisches sein. Es soll ein Manifest werden zum Stand der deutschen Einheit. Zur Frage, wie Sie sie sehen, was gut ist, wo die deutsche Einheit schon fest und unverrückbar steht, was im Westen und im Osten schiefläuft, was wir tun und was wir lassen müssen.
Ich soll mit meiner Rede auch ein wenig provozieren. Das tue ich gern. Denn die Fragestellung nach den Fehlern ist, bitte entschuldigen Sie den Ausdruck, „typisch deutsch“. Deutschland ist das Land der Grübler und Zweifler. Da nehmen sich Ostdeutsche und Westdeutsche nicht viel. Im Kritisieren scheint die Einheit tatsächlich vollzogen zu sein. Denn das größte Lob eines Deutschen – Ost wie West – ist immer noch ein „da kann man nicht meckern“.
Was läuft im Osten und im Westen schief? Schauen wir in diesen Tagen in die Ukraine, dann sehen wir, wie sich eine euphorische und anfangs gewaltlose Freiheits- und Bürgerrechtsbewegung ihre Handlungsspielräume erst nach blutigen Kämpfen gegen die inneren Machthaber und dann jetzt in noch gewalttätigeren Kämpfen gegen einen äußeren Aggressor erkämpfen muss.
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse bin ich dankbar, dass vieles bei uns gut gelaufen ist. Die Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften der SED-Diktatur ist unblutig geblieben – dank des konsequenten Gewaltverzichts der Bürgerinnen und Bürger dieses Staates. Heute sehen wir aber auch klarer, dass die friedliche Revolution und die nachfolgende Einheit eingebettet waren in einen europäischen Einigungsprozess. Deutschland konnte sich territorial, wirtschaftlich und politisch vergrößern, ohne dass es den Argwohn oder Neid seiner Nachbarn hervorgerufen hat. Heute würde Deutschland alles riskieren und wenig gewinnen, würde man sich aus der Integration der Europäischen Union herauslösen. (...)
Eine Diktatur wieder abzustreifen und sich aus der gebückten Haltung des Untertans zum aufrechten Gang eines selbstbewussten Bürgers aufzurichten ist ein langwieriger und anstrengender Prozess. Und Sie und ich können wenigstens ein bisschen stolz darauf sein, wie gut wir dabei vorankommen.
Wir arbeiten bis heute zwei Diktaturen auf. Eine, die mit dem Holocaust, der systematischen Ermordung von Juden und anderer Minderheiten, (...) einen historisch einzigartigen Terror gegen fremde Völker und eigene Staatsbürger betrieben hat. Und eine DDR-Diktatur, die ein Unrechtsstaat war, der Funktionsmechanismen besaß, die alle Diktaturen benutzen. Ein Spitzel- und Denunziationssystem, die Kontrolle der Presse, die Gleich- oder Ausschaltungsversuche nicht staatlicher Einrichtungen wie Kirchen, Gewerkschaften oder Vereinen und die Monopolisierung des Staates.
Ist solch ein belastendes Erbe in 25 Jahren, in einer Generation, abzutragen? Hier bei Ihnen sind heute drei Generationen vertreten. Ich bin gespannt, wie Sie sich über diese Frage verständigen werden. In Deutschland diskutieren gerade die „Kriegsenkel“ miteinander. Gewalterlebnisse im Krieg, Erfahrungen von Flucht, Verstecken der persönlichen Meinung haben einen Einfluss auf den Menschen, der bewusst oder unbewusst weitergegeben wird.
Wir sind auf dem Weg zur inneren Einheit weit vorangeschritten, aber wir sind immer noch unterwegs. Und deshalb ist es doch ganz gut, dass wir nicht nur jubeln, sondern uns fragen, was kann in Ost und West noch besser werden. Dass wir zurückschauen, bevor wir voranschreiten. Deshalb kann man auch einen Schlussstrich unter alle Schlussstrich-Debatten ziehen. Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem die Vergangenheit bewältigt wäre.
Es gibt aber die konkrete Gefahr, dass die repressiven und diktatorischen Seiten der DDR in Vergessenheit geraten, gerade auch die, die wir im Alltäglichen erlebt haben. Eine „Es war ja nicht alles schlecht“- oder eine „Man hat sich doch damals viel mehr gegenseitig geholfen“-Haltung, beleuchtet immer nur einen subjektiven Ausschnitt der Lebenswelt, die wir haben. Die Good-bye-Lenin-DDR aus Trabant und Vita-Cola, angeblicher Vollbeschäftigung und sozialem Wohnungsbau, nein, diese DDR gab es nur im Kino.
Im Umgang mit der DDR-Vergangenheit ist der Blick auf die Fakten heilsam. Auf Mangelwirtschaft und Redeverbote, auf Schießbefehl, auf Jugendwerkhöfe und Zensur, auf Abriss und Verfall, auf die schlimme Situation vieler Seniorinnen und Senioren, aber auch von geistig und körperlich Behinderten und Heimkindern. Viele waren in elenden Einrichtungen untergebracht, unter unwürdigsten Verhältnissen, die auch dem sozialistischen Menschenbild Hohn sprachen. (...)
Repression, Anpassung, Abhängigkeiten, Ausgrenzung und Widerstand, innere Emigration und Resignation, aber auch Loyalitäten und ideologische Überzeugungen haben das Leben in der DDR bestimmt. (...)
Die Politik, die Medien und Sie als Abgeordnete des Parlaments der Einheit sollten dafür werben, was Demokratie ausmacht. Demokratie als Herrschaft durch das Volk, als Teilhabe der Menschen an allen politischen Entscheidungen. Demokratie als das Recht, seine Meinung laut sagen zu dürfen, und als die Freiheit, Vielfalt leben zu können.
Ermutigen Sie Menschen, sich zu beteiligen: in den Kommunen, an Schulen und Universitäten, bei Volksentscheiden, in den Bundesländern und auch auf Bundesebene.
Greifen Sie nach der Macht und machen Sie verantwortungsbewusst davon Gebrauch.