Vor drei Jahren startete die Bundesregierung die Energiewende in Deutschland neu. Viele Erfolge der vergangenen Jahre sind beachtlich – doch der Schwung des gesellschaftlichen Großvorhabens nimmt ab
An einem Frühlingstag dieses Jahres sitzt ein älterer Herr auf einer Terrasse neben dem Hamburger Mercure Hotel. Gut gelaunt schnippelt er zum Mittagessen an einer Hähnchenkeule und blickt zwischendurch auf den Schleusenkanal. „Die Gewinner werden diejenigen sein, die mit Wissen, Kapital und Engagement die Energiewende in Deutschland verwirklichen“, sagt er. „Verlieren werden jene, die noch immer behaupten, die Versorgung eines komplexen Industrielandes wie Deutschland mit erneuerbaren Energien könne nie und nimmer funktionieren.“
Der Mann mit dem schwarzen Schnauzbart und dem freundlichen Gesicht weiß, worüber er spricht. Der US-Physiker Amory Lovins, 66, gilt als einer der Vordenker für den Umstieg von fossilen und nuklearen auf erneuerbare Energien, für mehr Effizienz und einen rationelleren Umgang mit Energie. Im Jahr 1976, nicht lange nach der ersten Ölkrise, beschrieb er in einem weithin beachteten Essay in der Politikzeitschrift „Foreign Affairs“ seine Vorstellungen von einem „sanften Energiepfad“, von einer Energienutzung ohne Raubbau an Bodenschätzen und Belastung der Atmosphäre. Seine Theorien setzte er bald darauf in die Tat um. Die Gebäude seines Rocky Mountain Institutes im US-Bundesstaat Colorado wurden zu einem Vorzeigeobjekt für intelligente Energienutzung und Vorbild für sogenannte Passivhäuser, die mehr Energie einfangen können, als in ihnen verbraucht wird. Nach dem Essen zückt Lovins, der zu einer Fachkonferenz nach Hamburg gekommen ist, sein Smartphone und zeigt Fotos: „Diese Bananenstauden wachsen in den Räumen unseres Instituts“, sagt er – in einem Gebäude, das allein durch Solarenergie und Körperwärme die Zucht subtropischer Pflanzen ermöglicht, bei Außentemperaturen von bis zu minus 40 Grad im Winter. Jüngst sei das Rocky Mountain Institute an der energetischen Sanierung des Empire State Buildings beteiligt gewesen, Manhattans berühmtestem Wolkenkratzer, sagt der Träger des Alternativen Nobelpreises stolz.
Als Lovins und andere Experten damit begannen, neue Perspektiven für die Nutzung von Sonnenlicht, Windkraft und Biomasse zu entwickeln, galten sie vielen als Fantasten. Doch sie legten die Grundlagen für tief greifende Debatten, die letztlich auch zur Energiewende in Deutschland führten. 144 Staaten treiben mittlerweile den Aufbau der erneuerbaren Energien voran, darunter 95 Entwicklungsländer, berichtete am Mittwoch das Netzwerk Ren 21, das zum Umweltprogramm der Vereinten Nationen gehört. 19 Prozent des Stromverbrauchs weltweit werden inzwischen aus regenerativen Quellen gedeckt. Und kein anderes Industrieland ist beim Umbau seiner Energieversorgung mittlerweile so weit gekommen wie Deutschland. Das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Großprojekt indes hat in der jüngeren Zeit an Schwung verloren. Die Energiewende ist in den Mühen des Alltags angekommen. Allerdings: Sie hätte auch komplett scheitern können.
Angela Merkel (CDU) machte sich als Oppositionsführerin des Bundestages in den 2000er-Jahren zur Wortführerin für eine Revision des Atomausstiegs, den die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2000 mit der Stromwirtschaft vereinbart hatte. In der Koalition von Union und FDP gab Merkel 2010 dem Drängen der Atomkraft-Lobby nach und schob die Fristen für einen Atomausstieg bis in die 2030er-Jahre hinaus. Nach der Katastrophe von Fukushima aber revidierte sie ihre Politik in einer Geschwindigkeit, die niemand erwartet hatte. Das Reaktorunglück von Fukushima sei ein „Einschnitt für die Welt“ und auch für sie persönlich, sagte die promovierte Physikern am 30. Juni 2011 im Bundestag: „Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen.“
Der zweite bundespolitische Beschluss zum Atomausstieg im Frühsommer 2011 markierte den Neustart zur Energiewende. Die jedoch läuft in der öffentlichen Wahrnehmung seither eher holprig: „Zwei abrupte politische Wenden – die Verlängerung der Atomkraft-Laufzeiten 2010 und die Revision dieses Beschlusses nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 – haben mit Blick auf die Kontinuität der Energiewende viel Verunsicherung erzeugt. Auch die Diskussionen um eine ,Strompreisbremse‘ seit dem Jahr 2012 waren da nicht sehr hilfreich“, sagt Jan Rispens, Geschäftsführer der Clusteragentur für erneuerbare Energien Hamburg (EEHH), die zur Wirtschaftsförderung der Hansestadt gehört. In den 2000er-Jahren waren Windparks und Solaranlagen noch eher exotische Erscheinungen. Mittlerweile aber drängen die erneuerbaren Energien ins Zentrum der deutschen Energieversorgung – harte Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern einer schnellen Energiewende sind die Folge.
Norddeutschlands Windkraft ist der Motor der gesamten Energiewende
„Nach dem Atomausstiegs-Beschluss von 2011 wurde von vielen Seiten die Angst geschürt, dass in Deutschland nun die Lichter ausgehen“, sagt Rispens, der seit mehr als 20 Jahren in verschiedenen Funktionen am Ausbau der erneuerbaren Energien arbeitet. „Es ist sicher anspruchsvoller geworden, die Netze mit einem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien stabil zu halten. Aber keine der vielen Blackout-Prognosen ist Realität geworden. Zugleich ist der Anteil der erneuerbaren Energien am deutschen Strommarkt seit 2010 von 17 auf gut 26 Prozent deutlich gestiegen – eine Größenordnung, die noch in den 1990er-Jahren für diesen Zeitraum als unerreichbar galt.“ Das Energiesystem mit einem weiter steigenden Anteil erneuerbarer Energien in der Kombination mit konventionellen Kraftwerken stabil zu halten sei die Hauptaufgabe der kommenden Jahre. Bis zum Jahr 2035, so das aktuelle Ziel der Bundesregierung, sollen 55 bis 60 Prozent des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Energiequellen kommen, bis 2050 soll der Anteil auf bis zu 80 Prozent steigen.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland verläuft nicht geradlinig. Erfolge beim Aufbau einer Solarstromindustrie, die auch mit hohen Vergütungen für Strom aus Fotovoltaikanlagen erkauft worden waren, wurden durch die Konkurrenz aus China innerhalb weniger Jahre wieder zunichte gemacht. Die Nutzung der Bioenergie auf der Basis des heimischen Raps- und Maisanbaus stieß an ihre Grenzen, weil die gesellschaftliche Akzeptanz dafür fehlt. Der Ausstoß des wichtigsten Treibhausgases Kohlendioxid stieg in Deutschland zuletzt wieder deutlich an, weil fossile und regenerative Kraftwerke unkoordiniert nebeneinander herliefen. Etliche Konflikte gab es obendrein auch um hohe Strompreise für Privathaushalte und um die Befreiung energieintensiver Unternehmen von der Ökostrom-Förderabgabe.
Der seit Ende 2013 amtierende Bundeswirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel (SPD) agiert auf etlichen Baustellen zugleich. Er muss widerstrebende Kräfte bändigen und der Energiewende neuen Schwung geben. Das versucht er mit der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), das die Bedingungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien definiert und das in seiner neuen Form schon im August in Kraft treten soll: Der Preisanstieg für die Förderung von Wind-, Solar- und Bioenergie soll gebrochen werden. Zugleich will Gabriel den Investoren stabile Rahmenbedingungen für die kommenden Jahre verschaffen.
Die Stromkonzerne in Deutschland, die das Vordringen der erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren mit aller Macht eindämmen wollten, haben sich in die Realitäten gefügt. RWE-Chef Peter Terium lamentierte jüngst noch darüber, die Energiebranche sei von der Politik vor Jahrzehnten „in die Kernenergie reingetrieben worden“. Speziell RWE und E.on wollen die langfristigen Risiken für die Abwicklung der Technologie mit dem Aufbau eines staatlichen Fonds und der Einbringung ihrer steuerfreien Rücklagen am liebsten schnell loswerden. Doch der inoffizielle Vorstoß der Konzerne bei der Bundesregierung erntete scharfe öffentliche Kritik. Es war ein allzu durchsichtiges Manöver, die Gewinne aus der Nutzung der Atomkraft jahrzehntelang an die Aktionäre zu verteilen und die Folgekosten anschließend auf die Gesellschaft abzuwälzen.
Mittlerweile versuchen die Versorgungskonzerne unter Hochdruck, beim Aufbau einer dezentralen, erneuerbaren Energieversorgung den Anschluss nicht zu verlieren. „Vattenfall hat die erneuerbaren Energien als wichtigstes Investitions- und Wachstumsthema für alle Projekte definiert, die im Konzern neu hinzukommen. Das priorisieren wir klar vor anderen Investitionen in unserem Erzeugungspark“, sagt Gunnar Groebler, Chef der neu geschaffenen Sparte für erneuerbare Energien des Konzerns für Kontinentaleuropa und Großbritannien, die in Hamburg sitzt. Neben RWE ist Vattenfall in Deutschland der zweitwichtigste Betreiber der besonders klimaschädlichen Braunkohlekraftwerke. Die werden, sagt Groebler, im Konzern voraussichtlich auch noch lange wichtig bleiben – in Zukunft aber eher eine Neben- als eine Hauptrolle spielen. „Die etablierte Stromerzeugung und die erneuerbaren Energien tauschen gerade die Rollen: Kohlekraftwerke werden in den kommenden Jahren mehr und mehr zur Ausgleichstechnologie für die schwankenden Erträge aus Wind- und Sonnenkraft und zum Garanten der Versorgungssicherheit“, sagt Groebler. „Insgesamt werden diese beiden Erzeugungssysteme in einer partnerschaftlichen Art aber sicher noch 30 bis 40 Jahre miteinander arbeiten, bevor die erneuerbaren Energien weit überwiegend den Bedarf eines großen Industrielandes wie Deutschland decken können.“
Deutlicher als früher zeigt sich heute, dass vor allem Norddeutschland eine führende Rolle spielen muss, wenn erneuerbare Energien zur Basis der Strom-, Wärme- und Kraftstoffversorgung für ganz Deutschland werden sollen. „Die Windenergie wird zur tragenden Säule der Energiewende“, sagt Jan Rispens. „Windparks an Land, vor allem im Norden, sind quasi der Billigmacher der Energiewende. Und Offshore-Windparks liefern fast dauerhaft Strom, vor allem im Winter, wenn der Energiebedarf besonders hoch ist.“ Mehr als 120.000 Menschen arbeiten mittlerweile in der deutschen Windkraft-Branche. Die ergiebigsten Standorte für Windparks sind die Nordseeküsten von Niedersachsen und Schleswig-Holstein. „Der Arbeitsmarkt für die Windenergie entwickelt sich positiv – mit jedem Zuwachs an installierter Leistung an Land und auf See wächst auch der Bedarf an hoch qualifiziertem Servicepersonal“, sagt Rispens. Mehr als 25.000 Arbeitsplätze sind durch die erneuerbaren Energien in der Metropolregion Hamburg bislang entstanden – die meisten davon in der Windkraftbranche.
Der Energiewende-Pionier Amory Lovins kennt die Auseinandersetzungen, die Argumente, die Reibungsflächen zwischen einem alten, etablierten und einem neuen Energiesystem aus vielen Ländern der Welt. Besonders aus seiner Heimat, den Vereinigten Staaten. Dort versucht Präsident Barack Obama von der Demokratischen Partei derzeit, neue, strengere Richtlinien für die Reduktion von Treibhausgasen durchzusetzen – gegen harten Widerstand aus Wirtschaft und Politik. Speziell in den USA, dem Land mit dem höchsten Energieverbrauch je Einwohner, ist der Umstieg auf eine umweltverträgliche Energieerzeugung ein Kraftakt. Die Solaranlage, die Präsident Jimmy Carter von der Demokratischen Partei 1979 auf das Weiße Haus montieren ließ, entfernte sein Nachfolger Ronald Reagan von den Republikanern wieder, der 1981 das Amt übernommen hatte – ein symbolischer Akt in einer Art Glaubenskampf um den richtigen Weg der Energienutzung in den Vereinigten Staaten.
Lovins sieht bei all dem weniger das Tages- als das Jahrhundertziel: „Die Antwort auf die Frage, wie weit wir den den Ausstoß von Treibhausgasen aus dem Verbrauch fossiler Energien senken müssen, ist einfach: auf null“, sagt er. „Deutschland liefert den besten Beweis dafür, was man mit erneuerbaren Energien langfristig erreichen kann.“