Der SPD-Vorsitzende zwischen parteiinternen Kritikern und den Zehn-Punkte-Forderungen an eine Große Koalition
Berlin. Gerd Miedthank ist ungehalten. Am Sonntagmorgen steht er vor dem Eingang des Willy-Brandt-Hauses, drinnen will der SPD-Parteikonvent über Koalitionsverhandlungen mit der Union beraten und entscheiden. Miedthank, seit vier Jahren Mitglied der SPD, ist entschiedener Gegner einer Großen Koalition. „15,7 Prozent“ ist auf seinem Transparent zu lesen, das er in die Höhe hält – ein solches Wahlergebnis sagt er der SPD bei der Bundestagswahl 2017 voraus, sollte sie in den kommenden vier Jahren mit der CDU/CSU regieren. „Die da oben tagen nicht öffentlich, damit die untereinander kungeln können“, erzürnt sich Genosse Miedthank und deutet auf die Parteizentrale: „Da sitzen 200 Delegierte, die von Staatsraison schwätzen.“ Miedthank möchte seine SPD in der Opposition sehen, sonst „werden wir noch einmal 200.000 Mitglieder verlieren“.
Miedthank und rund 50 Mitstreiter, die vor der SPD-Zentrale demonstrieren, sind nicht einig, was sie wollen. „Rot-Grün-Rot“, fordert eine ältere Dame. Andere halten dies angesichts der knappen mathematischen rot-rot-grünen Mehrheit für nicht machbar. Und es gibt Demonstranten, die daran erinnern, dass die SPD eine Koalition mit den Linken ausgeschlossen hatte. Eines aber verbindet alle Protestierenden: Sie wettern gegen die Union, gegen Kanzlerin Angela Merkel, gegen die Übernahme von Verantwortung. Auf einem mehrere Meter breiten Transparent sind die Konterfeis von Sigmar Gabriel, Andrea Nahles, Thomas Oppermann, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück abgebildet. „Nicht Ihr entscheidet“, ist darüber zu lesen, „sondern wir“. Da ist es wieder, das imaginäre, im Wahlkampf beschworene „Wir“.
Doch schon am Sonntagmittag, während der Parteikonvent beginnt, rücken die Demonstranten ab. Beim letzten Mal, als es noch um das Plazet zu den Sondierungsgesprächen mit der Union ging, harrten die Gegner der Großen Koalition stundenlang aus. Genau vier Wochen nach der Bundestagswahl lässt das Hadern mit der Macht bei der SPD nach. Auch Jan Stöß, der Vorsitzende der sich als „links“ verstehenden Berliner SPD, gibt sich am Sonntagmittag handzahm. Die zehn Punkte, die Sigmar Gabriel als Ziele für eine Große Koalition benannt hatte, seien doch nur als „Minimalforderungen“ zu verstehen. Steuererhöhungen aber und das Nein zum in der SPD verhassten Betreuungsgeld waren in diesem Entwurf nicht aufgeführt. Stöß aber will keinen Aufstand, es gibt sich pragmatisch. „Die Delegierten sind sich ihrer Verantwortung bewusst“, sagt er.
Im Hans-Jochen-Vogel-Saal tagt der Parteikonvent, jene rund 200 Funktionäre, die von den Landesverbänden entsandt wurden. Mit dabei sind die 35 Vorstandsmitglieder, die zuvor bereits konferiert hatten. Nein, turbulent geht es an diesem Sonntag nicht zu. Vorstand und Antragskommission hatten den wenige Stunden zuvor bekannt gewordenen Zehn-Punkte-Plan Gabriels noch erweitert. „Wir werden keine sozialen Kürzungen akzeptieren“ – so lautet ein Satz, der ergänzt wird. Nun also muss die SPD der Union diese Festlegung abringen, es handelt sich um eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen der letzten Großen Koalition. Darin hatte Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) die in der eigenen Partei umstrittene Rente mit 67 exekutiert – ein Projekt, das in den damaligen Verhandlungen von der Union durchgesetzt worden war. Derlei Erlebnisse möchte man nicht wiederholen.
Gewiss, in den Tagen nach der Bundestagswahl, hatten selbst Reformer in der SPD und manche Vertreter des konservativen Seeheimer Kreises über die Last einer Großen Koalition geklagt. Die strikten Worte von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück verfingen, und Defätismus machte sich breit. Davon ist nun in Parteispitze und Bundestagsfraktion kaum mehr zu hören. „Die Stimmung war richtig gut“, fasst ein Teilnehmer den Parteikonvent zusammen. Dass Wahlprogramm gelte weiter, lautet eine (selbst-)beruhigende Formel. Sigmar Gabriel wiederholt sie am Sonntagnachmittag und fügt gleich eine Relativierung hinzu: Auch die Union werde auf nichts aus ihrem Programm verzichten. So also sieht Gabriels Gratwanderung aus: eigene Inhalte selbstbewusst vertreten – und realistisch die Interessen der anderen Seite sehen.
Mit Pathos warb nicht zuletzt die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft für Koalitionsverhandlungen – auch das hatte vor nicht einmal vier Wochen noch anders geklungen. Kraft erinnerte an das Schicksal schlecht bezahlter Friseurinnen in Ostdeutschland und mangelhaft abgesicherter Zeitarbeiter. Sie verwies auf junge in Deutschland aufgewachsene Türken, die sich zwischen zwei Staatsbürgerschaften entscheiden müssten: All ihnen zuliebe müsse die SPD regieren, statt sich aus der Verantwortung zu stehlen. Man wolle „Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung ermöglichen“, heißt es in dem Zehn-Punkte-Beschluss des Parteivorstands.
Mit der Konstituierung des Bundestages am Dienstag und dem Beginn der Koalitionsverhandlungen dürften erste Personalentscheidungen fallen.