Bernd Lucke hat mit der Protestpartei AfD den Wahlkampf stärker geprägt als jede neue Partei zuvor. Doch Lucke muss sich gegen falsche Freunde vom rechten Rand wehren.
Bernd Lucke läuft auf das Podium. „Lucke!, Lucke!, Lucke!“, rufen sie ihm zu, hier im Festsaal des Maritim-Hotels in der Mitte Berlins, vielleicht 500 Meter entfernt vom Reichstag. Lucke reckt die Arme hoch, er stellt sich ein bisschen auf seine Zehen und winkt. Er winkt so, wie es die Sehnsüchtigen in den Heimatfilmen der frühen Bundesrepublik gemacht haben, als das Schiff mit der Liebe an Bord in den Hafen einfährt. Es ist ein übertriebenes Kamerawinken, in großen Bögen mit beiden Armen, ein ungeübtes Winken.
Bernd Lucke lacht. Er ist Professor, steht sonst in den Hörsälen der Wirtschaftswissenschaften der Hamburger Universität und doziert über Makroökonomie. Er wird dort nicht mit Jubelrufen empfangen, nicht von Kameras und Scheinwerfern. Heute ist alles anders im Leben von Bernd Lucke.
Lucke hat die „Alternative für Deutschland“ (AfD) gegründet, er war im Wahlkampf das Fernsehgesicht dieser neuen, unkalkulierbaren Partei. „Wir haben die großen Parteien das Fürchten gelehrt“, ruft er ins Mikrofon. Jubel im Saal. Gut 300 Mitglieder und Freunde der AfD sind zur Wahlparty in das Hotel gekommen. Die Alternative für Deutschland steht an diesem Sonntag seit kurz nach 18 Uhr im Fokus der Bundespolitik. 4,9 Prozent bekommt sie in den ersten Hochrechnungen. Als Lucke aufs Podium läuft, ist noch vage, ob seine Partei in den Bundestag einziehen wird. Und dennoch sehen sie sich im Saal alle schon als Sieger.
Konsequenzen: Der Liveticker nach der Wahl
Die Alternative für Deutschland stand lange Zeit in den Umfragen bei zwei Prozent. Dann wurden es drei, vier, dann fünf Prozent. Die unbekannte Partei wuchs, fast 17.000 Mitglieder hat sie innerhalb von wenigen Monaten bekommen, Landesverbände gründeten sich, ein knappes Wahlprogramm wurde erarbeitet. Bernd Lucke, 51 Jahre alt, lief durch die Talkshows der Republik. Und wer wissen will, wer diese Partei ist, kann sehr viel lernen an diesem Wahlabend im Saal des Maritim. Sein Aufstieg zum Parteichef der AfD ist ein politisches Produkt der Euro-Krise. Wie in Griechenland der Linke Alexis Tsipras, in Frankreich die Rechtspopulistin Marine Le Pen, in Österreich der Milliardär Frank Stronach oder in Italien Beppe Grillo gehört Lucke zu einer Protestbewegung, die inmitten der europäischen Finanzturbulenzen das Volk aufwiegeln kann. Gegen die EU, gegen die eigene Regierung. Die Euro-Gegner, die EU-Kritiker, als das werden Lucke und seine Partei in den Medien tituliert, so wie die SPD die Sozialdemokraten sind und die FDP die Liberalen. Die AfD setzte im Wahlkampf vor allem auf ein Thema. Und auf den Protest. Doch ist da noch mehr?
Lucke inszeniert sich als der Enttäuschte. Enttäuscht von der CDU. Genauer: von der Merkel-CDU. 33 Jahre lang war Lucke Mitglied in der Partei. In den 1980er- und 1990er-Jahren und noch länger. Die Vor-Merkel-Jahre, in denen die CDU für Atomkraft stand, für die Wehrpflicht und das dreigliedrige Schulsystem. Für vieles Konservative, eben. Heute ist die Merkel-CDU biegsam, rutscht in vielem in Richtung Mitte-links, dorthin, wo auch die Gesellschaft hinrückt.
Rechts der Union ist Platz geworden für eine neue Partei. Lucke gab den Heimatlosen eine Heimat, den Enttäuschten eine Hoffnung. So sehen das hier viele im Saal des Hotels. „Heute ist doch nichts mehr konservativ an der Union“, sagt ein Mann mit grauem Bart und Sakko. Vor allem von der CDU und der FDP hat die AfD Wähler bei der Bundestagswahl gewinnen können. Der Mann sagt, dass er jetzt in die AfD eingetreten ist, sei vor allem ein Zeichen gewesen: „Deutschland hat in der Euro-Krise gezahlt und gezahlt. Damit muss Schluss sein!“ In seiner Hand prickelt der Sekt im Glas.
Die Piratenpartei war viele Monate die neue deutsche Protestpartei, eine Alternative. Sie hat massiv an Stimmen verloren, ist in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Bernd Lucke taucht auf. Viele AfD-Politiker im Saal des Berliner Hotels sehen ihn als das „Gesicht der Partei“. Er sei jemand, mit der sich viele Menschen in der Partei identifizieren konnten, sagt ein Landespolitiker aus dem Süden. Er habe in den Medien die Positionen der AfD sachlich und gut vertreten, sagt ein anderer. Er habe die AfD wählbar gemacht für die Menschen in der Mitte der Gesellschaft. In Berlin wurde Lucke geboren, in Bonn hat er unter anderem studiert, auch in den USA. Mit seiner Frau, ebenfalls Wissenschaftlerin, hat er fünf Kinder.
Die Mitte. Das war lange der Slogan der Merkel-CDU. Aber diese sogenannte Mitte der Gesellschaft wird an diesem Abend bei der AfD sehr oft zitiert. Als Lucke kurz nach der ersten Hochrechnung auf der Bühne steht, holt er diese „Mitte“ sogar auf die Bühne. Seine Frau, Freunde, Wegbegleiter, Parteikollegen. Auch Luckes Kinder sind auf der Bühne. Sie überreichen Blumen. Es ist das Bild der bürgerlichen Familie, das Lucke demonstriert. Er hat dafür die passenden Worte vorbereitet: „Wir haben die Demokratie reicher gemacht, wir haben die Demokratie gestärkt. Und das haben wir aus der Mitte der Gesellschaft getan, als mündige Bürger“, ruft Lucke ins Mikrofon. Lucke ist wie seine Partei. Ein Mann, der beruflich Erfolg hat. Er ist gebildet, kein Protest-Prolet. Sondern Professor, wie es viele in der Partei gibt. Und doch wetterte Lucke im Wahlkampf mit scharfem Ton gegen die EU, gegen den Euro, gegen Merkel. Am Ende auch immer stärker gegen „ungeregelte Zuwanderung“. Lucke ist ein Feingeist, der in die theoretischen Verästelungen der Volkswirtschaft verliebt ist und gleichzeitig handfeste Sätze sagt wie: „Die Krise ist nicht gelöst, wir haben nur Geld darübergekippt.“ In der Debatte um Zuwanderung nannte er manche Einwanderer „eine Art sozialen Bodensatz“.
Lucke sieht sich als „Protest aus der Mitte“ der Gesellschaft. Und diese Mitte scheint wütend zu sein. Ein Professor im Saal wolle die Politik der schwarz-gelben Regierung bei der Euro-Krise nicht länger dulden, sagt er, die Milliarden, die nach Griechenland fließen würden, nicht mehr zahlen. Der Rettungsschirm sei „ein Fass ohne Boden“. Manchmal fragt man sich im Saal des Berliner Hotels, wovor diese wütende Mitte eigentlich Angst hat. Und warum sie auch Angst schürt. Die Mitte endete oft auf den Demonstrationen der AfD im Wahlkampf. Luckes Mitmarschierer gaben sich radikaler als der Parteichef und schwangen die bekannten Parolen: Griechen raus aus dem Euro! Keine Macht mehr nach Brüssel! Wir zahlen nicht für andere! Bei fast jeder Veranstaltung gab es Proteste gegen die AfD.
Die Debatten über nationale Parolen der AfD-Politiker, die Diskussionen über Rechtsextremisten, die in die Partei drängen könnten – sie sind für die AfD-Mitglieder im Festsaal des Hotels weit weg. Für viele seien das nur „einige Chaoten“, die Partei werde medial niedergemacht, sagen andere. Viele verweisen darauf, dass die AfD per Parteistatut darauf achte, ob ein Neumitglied zuvor in einer rechtsextremen Partei wie der NPD oder den Republikanern war. Doch in einigen Landesverbänden laufen diese Debatten. Erst kürzlich gab Hamburgs AfD-Chef Jörn Kruse im „Spiegel“ zu, dass er die extrem rechten Kräfte in der Partei unterschätzt habe. Die Zahl der „unerwünschten Freunde“ sei zwar bundesweit gering – und doch spüre auch er, wie vernetzt und aktiv die Rechtsextremen sind. Viele hätten weder Amt noch Listenplatz. Lange, so berichten auch frühere Mitglieder der AfD, habe die Partei die Auseinandersetzung mit Rechten gescheut.
350 Mitglieder der Anti-Islam-Partei Die Freiheit sind nach deren Angaben übergelaufen zur AfD. Die Berliner „Freiheit“ wurde bekannt durch Agitation gegen Moscheebauten und eine Einladung an den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders.
Kurz bevor die erste Hochrechnung auf den beiden großen Leinwänden im Hotelsaal eingeblendet wurde, schallte aus den Lautsprechern das Wahl-Lied der AfD. „Wir geben nicht auf“, singt ein Mann darin. „Wir halten zusammen.“ Und: Die Rettung ist alternativ. In dem Lied fragt der Sänger, ob Deutschland nicht eine Diktatur sei. Und der Bürger nur ein Haufen rechtloser Affen. Es geht um die korrupte Politik und um das „Glück“, das die AfD in die Heimat zurückbringt. Zum „tollen Volk“ der Deutschen. Es sind Parolen, wie sie auch ganz weit rechts zu hören sind.
Als Bernd Lucke auf dem Podium steht, spricht auch er von den „verkrusteten Strukturen der Altparteien“. Seine Partei habe die Demokratie „ertüchtigt“, nachdem man in den vergangenen vier Jahren „so viel an Entartungen von Demokratie und Parlamentarismus“ erlebt habe. Es sind diese Momente, bei denen in Lucke der Populismus hochkommt, das Unkalkulierbare.