Milliarden-Entlastungen und eine geringe Aufstockung von Mini-Renten beschlossen. SPD nennt Rentner und Familien die großen Verlierer.
Berlin. Opposition und Sozialverbände haben empört auf die schwarz-gelben Entscheidungen zu Mini-Renten und Betreuungsgeld reagiert. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel nannte es eine Katastrophe, dass die FDP dem CSU-Projekt Betreuungsgeld zugestimmt habe. Große Verlierer bei den Entscheidungen des Koalitionsausschusses vom frühen Montagmorgen seien die Rentner. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) kritisierte, die Regierung erkaufe sich „den Koalitionsfrieden auf Kosten der Familien“, der Sozialverband SoVD äußerte sich ebenfalls ablehnend zu den Rentenbeschlüssen.
SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sagte zu den Beschlüsse des Koalitionsausschusses. Einziger Zweck sei der interne Ausgleich zwischen Union und FDP. „Jeder bekommt ein kleines Geschenk“. Mit dieser „durchsichtigen Strategie“ komme die Koalition aber nicht durch. „Man kann die Wählerinnen und Wähler nicht kaufen, schon gar nicht mit einem bildungspolitischen Rückschritt wie dem Betreuungsgeld.“
Die Koalition verteile Wahlkampfgeschenke, rügte Steinbrück. „Eine Linie für die Lösung der Probleme unseres Landes ist nicht zu erkennen.“ Der Anspruch der Haushaltskonsolidierung sei eine „dreiste Behauptung“ angesichts der fehlenden Gegenfinanzierung. Sein Fazit lautete, dass die Kanzlerin damit nicht durchkommen werde. „Ein Pragmatismus, der sich allein auf Machterhalt stützt, wird die Menschen nicht überzeugen.“
Koalitionspolitiker werteten ihre Beschlüsse erwartungsgemäß als Erfolg. CDU, CSU und FDP hatten sich unter dem Druck des nahenden Wahlkampfs auf eine Entlastung der Bürger in Milliardenhöhe geeinigt. Die Praxisgebühr wird auf Verlangen der FDP zum 1. Januar 2013 neun Jahre nach der Einführung wieder abgeschafft – damit sollen die Bürger um rund zwei Milliarden Euro im Jahr entlastet werden. Eine Senkung der Kassenbeiträge wie von der Union favorisiert kommt hingegen nicht.
Die Renten von Geringverdienern, die auch nach 40 Beitragsjahren und privater Zusatzvorsorge noch unter der Grundsicherung liegen, sollen aus Steuermitteln aufgestockt werden. Nach Angaben aus der Koalition geht es nur um einen geringen Betrag, mit dem die Rente etwa 10 bis 15 Euro über der Grundsicherung von durchschnittlich 688 Euro liegen dürfte. Bei diesem Kreis handele es sich nur um etwa zwei Prozent der Geringverdiener.
Die von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) favorisierte beitragsfinanzierte Zuschussrente wird es nicht geben. Die Ministerin sagte in der ARD, sie sei froh, dass die Aufstockung der Mini-Renten zu 100 Prozent aus Steuermitteln finanziert werde. Dies hatte sie ursprünglich gefordert, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte sie damit aber abblitzen lassen. Von Leyen sagte nun: „Die Sieger dieses Gipfels, das sind die Geringverdiener.“
Nicht geeinigt hat sich die Koalition auf eine bessere Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Rente. Der Koalitionsausschuss erteilte lediglich einen Prüfauftrag.
Der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und FDP soll künftig wieder regelmäßig tagen. Darauf verständigten sich die Spitzen von Union und FDP am Sonntagabend im Kanzleramt. Wie am Montag aus der FDP-Führung verlautete, will man sich künftig vor der Ministerpräsidenten-Runde treffen, die in der Regel donnerstags vor den Sitzungen des Bundesrates in Berlin zusammenkommt.
Gabriel sagte im Sender NDR Info zu den Renten-Entscheidungen der Koalition: „Es ist ein ziemlicher Zynismus zu sagen, wir erfinden eine Lebensleistungsrente für Menschen, die mehr als 30 oder 40 Jahre gearbeitet haben, und die liegt dann nur 10 oder 15 Euro oberhalb der Sozialhilfe.“
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier warf Schwarz-Gelb Versagen vor: „Dieser Koalitionsausschuss war der Offenbarungseid für die Regierung Merkel.“ Die Beschlüsse zum Betreuungsgeld und zur Praxisgebühr bezeichnete Steinmeier als verantwortungslosen Deal. SPD-Parteivize Manuela Schwesig sprach im Radiosender MDR Info von einem „Riesen-Kuhhandel“.
Die Grünen wollen nach den Worten ihrer Parteichefin Claudia Roth Front gegen das Betreuungsgeld machen. „Wir werden das auf keinen Fall mitmachen“, sagte sie am Montag dem Sender n-tv. „Ich glaube, das ist mit der Verfassung überhaupt nicht zu vereinbaren.“
Der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler sprach angesichts der Entscheidung für das Betreuungsgeld von einem schwarzen Tag für alle Eltern. Die Koalition hoffe darauf, sich mit der Prämie vom Anspruch auf einen Betreuungsplatz freizukaufen.
FDP-Chef Philipp Rösler sagte in der ARD, seine Partei habe beim Betreuungsgeld wesentliche Änderungen durchgesetzt. „Durch das verspätete Eintreten sparen wir 250 Millionen Euro für 2013 und 520 Millionen Euro für 2014.“
Das Betreuungsgeld soll zum 1. August 2013 und nicht wie geplant zum 1. Januar eingeführt werden. Noch in dieser Woche soll der Bundestag in dritter Lesung entscheiden. Zunächst soll es für Kinder im zweiten Lebensjahr 100 Euro monatlich geben, ab 2014 auch für Kinder im dritten Lebensjahr und anschließend für alle 150 Euro. Wer das Geld nicht in bar ausgezahlt haben will, soll es auch zur privaten Altersvorsorge oder für das von der FDP geforderte Bildungssparen verwenden können. Dann soll es jeweils einen zusätzlichen Bonus von 15 Euro im Monat geben.
Angesichts des Milliardenpolsters des Gesundheitsfonds beschloss die Koalition, den Bundeszuschuss zu diesem Topf 2013 um 500 Millionen Euro und 2014 um 2 Milliarden Euro zu kürzen.
Die CSU konnte sich mit ihrer Forderung nach mehr Geld für die Verkehrswege weitgehend durchsetzen. Trotz der anvisierten rascheren Haushaltskonsolidierung bekommt Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) dafür weitere 750 Millionen Euro. Verlangt hatte er eine Milliarde Euro. Das Geld soll vorrangig für Neubauprojekte eingesetzt werden.
Der Haushalt 2014 soll strukturell ohne Neuverschuldung auskommen. Das heißt, dass Konjunkturschwankungen sowie Einmalzahlungen wie die dann fällige letzte Rate in Höhe von 4,3 Milliarden Euro an den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM ausgeklammert werden. Damit hat die Regierung noch Spielraum für neue Schulden. Für das Einhalten der Schuldenbremse entscheidend ist das strukturelle Defizit.