Erstmals spricht ein deutscher Top-Manager öffentlich über sein Schicksal - und damit über das von Tausenden anderen Kranken. Er hatte seinen Abschied von der Familie schon vorbereitet, als die erlösende Nachricht kam: Wir haben eine Leber für Sie!
Manchmal hat er sich früher gefragt, ob die anderen etwas merken. Seine Verhandlungspartner, Politiker, Kollegen. Ob sie merken, dass seine Augen oft gelb sind. Dass seine Stimme immer wieder versagt, er so erschöpft ist. Und dass er nie Alkohol trinkt. Sich immer nur einschenken lässt, aber nie etwas aus dem Glas trinkt.
Manchmal fragt er sich heute, ob die anderen jetzt etwas merken. Ob sie merken, dass seine Augen wieder klar sind, seine Stimme kräftig. Dass er fit und vital ist. Und ob sie vielleicht wissen, dass er eine neue Leber bekommen hat. Eine Organspende.
Meistens spricht Norbert Klusen (60) nicht darüber. Weil er nicht im Mittelpunkt stehen will, Privates nicht öffentlich machen möchte. Weil es nicht seine Art ist. Doch manchmal muss er darüber reden. Will er darüber reden. Um all jenen eine Stimme zu geben, die auf eine lebensrettende Organspende warten. Denn auf Norbert Klusen hören die Menschen. Weil er in Deutschland etwas zu sagen hat. Er, der Spitzenmanager, Erfolgsmann. Er, der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse. Und der selbst durchgemacht hat, was derzeit 12 000 Menschen durchmachen, die auf ein neues Organ warten. Jeder Dritte von ihnen stirbt, weil er nicht rechtzeitig eins bekommt. Weil zu wenige Menschen bereit sind, ihre Organe nach dem Tod zu spenden.
"Ich hatte Glück. Jetzt will ich alles dafür tun, damit auch andere ein neues Organ bekommen", sagt Norbert Klusen. Er sitzt in seinem Büro bei der TK in Hamburg, Bramfelder Straße 140, fünfter Stock. Auf dem Konferenztisch stehen Kekse, eine Schale mit Obst, grüner Tee. "Der ist gesund", sagt Klusen, nimmt sich dann aber eine Cola light. Er will normal leben, sich keine Sorgen mehr machen, keine Angst haben. Er will leben. Glücklich sein. "Ich habe ein neues Leben geschenkt bekommen. Das will ich genießen", sagt Norbert Klusen. Sachlich. Nüchtern. So, wie er ist. "Ich bin kein Typ für überschwängliche Gefühle", sagt er. Deswegen sei er nach der Lebertransplantation auch nicht in Euphorie verfallen. Und nur deswegen sei er nicht verzweifelt, als er erfahren hatte, dass er unheilbar krank ist. Damals, an jenem warmen Frühlingstag vor acht Jahren. "Ich hatte jahrelang zu hohe Leberwerte und bin immer wieder deswegen behandelt worden. Bis es so schlimm wurde, dass ich ins Krankenhaus musste", sagt Norbert Klusen. Die Ärzte diagnostizieren PSC - Primär sklerosierende Cholangitis, eine chronische Entzündung der Gallengänge. Im ersten Moment ist Klusen erleichtert, dass endlich etwas gefunden wurde und dass es keine Hepatitis ist. Dann bittet er seine Assistentin, Informationen über die Krankheit zu sammeln. Eine Krankheit, die unheilbar ist, oft zu Krebs führt. Zum Tod. Norbert Klusen ist 52 Jahre alt, als er davon erfährt.
Es ist das Jahr 2000. In Deutschland werden 3819 Organe transplantiert. Fast 14 000 Menschen warten auf eine Spende. Jeder Dritte von ihnen bekommt nicht rechtzeitig ein neues Organ. Stirbt. Doch daran denkt Norbert Klusen damals nicht. Seine größte Angst heißt Krebs, von einer Organtransplantation ist nie die Rede. Zur Behandlung bekommt er entzündungshemmende Medikamente und Cortison. Doch irgendwann hilft selbst das nicht mehr. Er muss in die Lebertransplantations-Ambulanz. Hier erfährt er zum ersten Mal, dass er ein neues Organ braucht - und wie schwer es ist, eins zu bekommen.
Es ist das Jahr 2003. In Deutschland werden 4175 Organe transplantiert. 11 778 Menschen warten auf eine Spende. Norbert Klusen ist einer davon.
Irgendwann kommen die Krankheitsschübe immer häufiger. Zuerst zweimal im Jahr, dann dreimal, schließlich sechsmal. Immer dann bekommt Norbert Klusen hohes Fieber - und gelbe Augen. Tagelang schaut er keinem ins Gesicht, damit niemand die verräterische Farbe sieht. Manchmal in dieser Zeit fragt er sich, ob die anderen wohl etwas merken. Ob sie ihm etwas ansehen, etwas ahnen. Doch die meisten merken nichts. Weil er weiterhin zwölf Stunden am Tag arbeitet, an der Normalität festhält. Und weil der Krankheitsschub jedes Mal nach ein paar Tagen wieder vorbei ist, die Augen wieder weiß werden. Nur beim letzten Mal nicht. Da bleiben sie gelb. Norbert Klusen hat Leberzirrhose. Im fortgeschrittenen Stadium. Er braucht so schnell wie möglich ein neues Organ. Doch es gibt keins.
Es ist Januar 2008. In Deutschland warten 12 000 Menschen auf ein neues Organ. Jeden Tag sterben drei von ihnen, weil sie nicht rechtzeitig eins bekommen. Norbert Klusen könnte einer von ihnen sein. Das weiß er. Das weiß die Familie. Seine Söhne Philip (16) und Lars (28) wollen einen Teil ihrer Leber spenden, um ihren Vater zu retten. Doch Philip ist zu jung, laut Gesetz. Und Lars auch, laut Norbert Klusen. "Eine Lebendspende kam für mich nicht infrage", sagt Klusen. Natürlich würde er selbst seinen Kindern sofort ein Organ spenden. Aber umgekehrt? Nein - niemals! "Ich hätte mir mehr Sorgen um meinen Sohn gemacht als um mich." Sorgen, dass die Leber nicht nachwächst, dass es Komplikationen gibt.
Zu dem Zeitpunkt rechnet er nicht mehr damit, eine Leber zu bekommen. Sein Lebensmut lässt nach, seine Kraft auch. Also regelt er seine "Dinge", wie er es nennt. Er legt einen Ordner mit Unterlagen an, plant eine letzte Reise mit der Familie. Eine Abschiedsreise. Weil er weiß, dass er nicht mehr lange reisen kann. Zu schwach ist. Zu krank. "Daher wollte ich noch einmal mit meiner Frau und den Kindern Urlaub machen, unbeschwert sein", sagt er. Der Familie sagt er nicht, dass es eine Abschiedsreise ist. Er will nicht, dass sie die Hoffnung aufgibt. So wie er. Ende Juli soll es losgehen, nach Amerika. Doch dazu kommt es nicht mehr. Am 27. Juni 2008 um sieben Uhr ein Anruf: Man hat eine passende Leber gefunden. Es ist der zwölfte Geburtstag seiner Tochter Sophie.
Irgendwo in Europa war ein Mensch gestorben, dessen Organe zur Transplantation freigegeben wurden. "Sind Sie bereit?", fragt der Anrufer. "Ja", sagt Klusen. Mehr nicht. Jetzt zählt jede Minute. Ein Krankenwagen bringt ihn ins UKE, dort wartet bereits ein anderer potenzieller Empfänger. Nach der Untersuchung steht fest: Der "andere" bekommt das Organ. Er steht höher auf der Liste und ist als Empfänger besser geeignet. Regungslos nimmt Norbert Klusen die Nachricht auf. Dann fährt er eben ins Büro, sagt er sich - als der zweite Anruf kommt. Es gibt eine zweite Leber, eine zweite Chance. Jetzt muss er warten, ob Eurotransplant - die Vermittlungsstelle für Organspenden im niederländischen Leiden - die Leber für ihn freigibt. Also wartet er. Den Vormittag, den Nachmittag. Zwischendurch telefoniert er mit der Firma, die Geschäfte müssen weitergehen. Trotz allem. Noch während des Gesprächs wird er auf die Station gerufen, 30 Minuten später liegt er im OP. Angst hat er nicht. Dafür fehlt die Kraft. "Träumen Sie schön", wünscht ihm der Narkosearzt, dann ist das Leben von Norbert Klusen vorbei - das alte Leben.
Als er irgendwann später auf der Intensivstation aufwacht und das leise Piepen der Monitore hört, beginnt für ihn ein neues Leben. "Ich habe mich besser gefühlt als jemals zuvor", sagt Norbert Klusen. Er weiß nicht, wie er das Unbeschreibliche beschreiben soll. Das Gefühl, leben zu dürfen, weil ein anderer Mensch gestorben ist. Er ist für ihn gestorben, sagen die Menschen. Nein, sagt Norbert Klusen. "Er wäre ja auch sonst gestorben." Doch der Gedanke an den Spender begleitet ihn. Begleitet ihn, als er das erste Mal aufsteht, seine Familie sieht. Glücklich ist. "Das ist ein schlimmes Gefühl. Dass die eigene Familie so glücklich ist - während die Familie des Spenders gerade verzweifelt." Manchmal wünscht er sich, die Anonymität der Organspende zu durchbrechen und Kontakt zu der Familie aufnehmen zu können, Blumen auf das Grab des Unbekannten zu legen. Weil es das Einzige ist, was er für den anderen noch tun könnte. Doch er kann etwas tun, das hat ihm ein Kollege mit einem neuen Herzen geraten. Er kann das Organ annehmen, akzeptieren. Als sein eigenes. "Es ist meine Leber. Nicht die eines anderen Menschen, sondern meine", sagt Norbert Klusen. Er fühlt sich gesund, Angst vor einer Abstoßung hat er nicht. Die ersten sechs Monate nach einer Organspende sind kritisch, sagt man. Vier davon hat Klusen bereits um.
Er weiß, dass er vorsichtig sein muss. Aber nicht so vorsichtig, dass er kein normales Leben führen kann. Das ist ihm wichtig. Normalität. Alltag. Zwölf Tage nach der Transplantation war er das erste Mal im Büro, sieben Wochen später hat er wieder voll gearbeitet. Er ist ruhiger geworden, regt sich nicht mehr so schnell auf. Nur wenn es um das Thema Krankheit und Organspende geht. Um die Vorurteile. Dass die Spender vorzeitig für tot erklärt und dann "ausgeschlachtet" werden. Dass alle Leberkranken Alkoholiker sind. "Alles Quatsch", sagt Klusen. Er selbst hat schon seit Jahren einen Ausweis, seine Frau auch. Sie hat ihn am 27. Juni 2002 unterschrieben. Genau sechs Jahre, bevor Norbert Klusen ein neues Organ bekommen hat.
Manchmal fragt sich Norbert Klusen heute, ob die anderen es merken. Merken, wenn sie Kranke diskriminieren. Merken, welche Vorurteile sie gegen das Organspenden haben.
Und manchmal, wenn er sich das fragt, fängt er an, darüber zu reden.