Nicht alle Sitze im Bundestag sind gemäß dem Wählerwillen besetzt.
Hamburg. - Nach jeder Bundestagswahl schrauben Haustechniker zusätzlich zu den eigentlich 589 vorgesehenen blauen Stühlen noch einige Sitzgelegenheiten mehr in die Reihen - Politiker, die dort Platz nehmen, haben ein Überhangmandat ergattert. Das kann passieren, wenn ein Kandidat in seinem Wahlkreis genug Erststimmen erhält, um in den Bundestag zu ziehen - das aber eigentlich gar nicht dürfte, weil seine Partei über die Zweitstimmen nicht genug Sitze erhalten hat. Das Verfassungsgericht hat diese Regelung bereits gerügt, weil so das Wahlergebnis verzerrt werde, dem Gesetzgeber aber eine Frist bis 2011 gewährt.
Nun ist erneut ein parteipolitischer Streit um die Überhangmandate ausgebrochen. Denn die Union könnte so stark von dieser Regelung profitieren wie noch nie. Wie der "Spiegel" berichtet, hat Politikprofessor Joachim Behnke errechnet, dass die SPD Prognosen zufolge höchstens drei Überhangmandate erhalten werde, die CDU dagegen 21, und selbst die CSU käme erstmals auf drei zusätzliche Sitze. Damit, so der Wissenschaftler, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass CDU und FDP die nächste Regierung bilden könnten, dramatisch, nämlich von 66 auf 90 Prozent. Grund dafür sei eine rechnerisch "historisch einmalige Situation": Die Union liegt in aktuellen Umfragen bei 36 Prozent und ist damit so weit unter der 50-Prozent-Marke wie erst einmal zuvor eine stärkste Partei bei einer Wahl. Dennoch hat sie einen zweistelligen Vorsprung vor der SPD. Genau diese Konstellation begünstige die Bildung von Überhangmandaten dramatisch zugunsten der stärksten Partei. Zum Vergleich: Bei der letzten Bundestagswahl waren 16 Überhangmandate angefallen, davon neun für die SPD und sieben für die CDU.
SPD, Grüne und Linke drangen am Wochenende darauf, das Gesetz noch vor der Wahl zu ändern. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast warnte vor einer "verfassungswidrigen Regierungsbildung", wenn der "Wählerwille derart verfälscht werde". Auf Antrag der Grünen stimmt der Bundestag in dieser Woche darüber ab, Überhangmandate weitgehend auszuschließen. "Man darf nicht mit einem verfassungswidrigen Wahlrecht in die Bundestagswahl gehen", sagte auch der Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann. Von CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder kam dagegen ein klares Nein. Das Wahlrecht müsse zwar geändert werden, "die Zeit bis zur Bundestagswahl reicht dafür aber nicht mehr aus".