Gleich nach der Abstimmung in Bundestag und Bundesrat wird Karlsruhe angerufen. Linke sieht Haushaltsrecht des Bundestages eingeschränkt.
Berlin. Wenige Stunden vor der Abstimmung über den Fiskalpakt und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erwartet die Bundesregierung breite Mehrheiten im Parlament. Der Bundestag will die beiden Vertragswerke heute Abend ratifizieren; anschließend soll der Bundesrat darüber abstimmen. In beiden Häusern ist sowohl für den Fiskalpakt als auch für den ESM eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die Führungen von Union und FDP, aber auch von SPD und Grünen werben für ein Ja zu beiden Projekten. In Koalitionskreisen wird damit gerechnet, dass CDU/CSU und FDP in beiden Fällen ihre "Kanzlermehrheit" von 311 Stimmen aufbieten können. "Die Kanzlermehrheit wäre schon gut", hieß es in Regierungskreisen. Innerhalb der Regierungsfraktionen wird der ESM von einigen Abgeordneten abgelehnt. Zwölf eigene Parlamentarier haben angekündigt, dem ESM nicht zuzustimmen, hieß es in der Unionsfraktion. Bei den Liberalen wird mit vier bis sechs ablehnenden Voten gerechnet. Die Koalitionsfraktionen stellen 330 der 620 Abgeordneten.
Die 146-köpfige SPD-Fraktion dürfte mit einer breiten Mehrheit für Fiskalpakt und ESM stimmen. Mit einem einstimmigen Votum wird jedoch nicht gerechnet. Vertreter des linken Flügels lehnen den Fiskalpakt ab. Der Abgeordnete Peter Danckert - der dem rechten Seeheimer Kreis angehört - hatte am Dienstag eine Verfassungsklage angekündigt. Die Grünen-Führung rief ihre Abgeordneten zu einem positiven Votum auf - nachdem der Länderrat nur mit knapper Mehrheit einen solchen Beschluss gefasst hatte.
Bereits vor den Abstimmungen hat das Bundesverfassungsgericht Kenntnis von Klagen gegen Fiskalpakt und ESM. Schriftsätze angekündigt haben die Fraktion der Linken, die frühere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) gemeinsam mit dem Verein Mehr Demokratie sowie der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler habe einen Klageentwurf vorab eingereicht. Auch liege die Verfassungsbeschwerde eines einzelnen Bürgers vor, teilte das Gericht mit.
In den Klagen der Linken geht es im Wesentlichen darum, dass das Haushaltsrecht des Bundestags beeinträchtigt wird. Die Budgethoheit werde teilweise auf die europäische Ebene verlagert. Der Bundestag habe auch keinerlei Möglichkeit, aus dem Fiskalpakt wieder auszusteigen. Es werde damit ein neues, unabänderliches Recht geschaffen, argumentiert die Linke. Die Linke will ihre Klagen unmittelbar nach den Abstimmungen per Fax nach Karlsruhe schicken, gleichzeitig wird ein Kurier losgeschickt. Die Kläger um Professor Schachtschneider wollen ihre Antragsschrift am Sonnabend persönlich bei Gericht einreichen. Vorab wollen sie schon heute ein Fax schicken.
Das Verfassungsgericht hat Bundespräsident Joachim Gauck bereits gebeten, die Ratifizierungsgesetze zunächst nicht zu unterzeichnen. Mit einer Entscheidung über die einstweiligen Anordnungen rechnet man bei Gericht "innerhalb weniger Wochen". Anschließend stünde eine Entscheidung in der Hauptsache an. Das eigentlich für den 1. Juli geplante Inkrafttreten des ESM verschiebt sich also auf jeden Fall.
Im Eilverfahren trifft das Gericht nur eine einstweilige Anordnung. Das heißt, es könnte die Ratifizierung der Verträge aufschieben. Bei einer Hauptsacheentscheidung sind verschiedene Möglichkeiten denkbar: Sollten die Richter davon ausgehen, dass ESM und Fiskalpakt gegen das Grundgesetz verstoßen, könnten sie die jeweiligen Zustimmungsgesetze für nichtig erklären. Es wäre dann Sache der Politik, gegebenenfalls das Volk über ein geändertes Grundgesetz abstimmen zu lassen. Denkbar ist auch, dass die Richter etwa eine weitergehende Beteiligung des Parlaments fordern. Wahrscheinlicher scheint Experten aber eine "Bis-hierher-und-nicht-weiter-Entscheidung": Dies würde bedeuten, dass Deutschland nach dem ESM keine zusätzlichen Risiken mehr übernehmen dürfte.
Doch die Gegner von ESM und Fiskalpakt setzen nicht nur auf juristische Mittel. Etliche Netzwerke wie das "Bündnis Bürgerwille", das "Aktionsbündnis Direkte Demokratie" oder die "Zivile Koalition" machen im Netz, auf der Straße und auf Veranstaltungen mobil. Zu den namhaftesten Euro-Gegnern gehört der frühere Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel. Er warnt, dass als Nebenprodukt von Euro-Rettungsaktionen "aus der Euro-Zone im Handstreich ein europäischer Zentralstaat" gemacht werden solle. Mit dem Fiskalpakt und dem ESM sollten Fakten geschaffen, Alternativen verbaut und eine Umkehr von dieser Politik unmöglich gemacht werden, kritisiert Henkel.
Aus der Euro-Skepsis wollen jetzt die Freien Wähler Kapital schlagen, die künftig bundesweit antreten. Deren Vorsitzender Hubert Aiwanger hofft, dass seine Partei bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr mit einer Euro-kritischen Haltung punkten kann. In der Wirtschaft goutieren nicht alle Unternehmer und Verbände die Entwicklung in der Währungsunion. Vor allem die Familienunternehmer sehen die fortgesetzten Rettungsaktionen skeptisch. "Auch wenn es wieder wenige Neinstimmen gegen den ESM gibt, stehen diese doch für ein sehr großes Unbehagen von viel mehr Abgeordneten - bis in die Spitzen der Bundesregierung hinein", sagte der Präsident des Verbandes der Familienunternehmen, Lutz Goebel, unter Berufung auf etliche Gespräche mit Politikern. Die Geduld mit immer neuen Brüsseler Ideen auf Kosten Deutschlands sinke rapide.