Beim ersten Parteitagsauftritt seit 13 Jahren vereint der Altkanzler die SPD hinter Forderungen nach Solidarität mit den Schuldenstaaten.
Berlin. Angela Merkel ist omnipräsent in der übervollen Parteitagshalle in Berlin. Keine Rede, in der die Bundeskanzlerin und ihre Koalition nicht stattfinden. Sie werden zum Ziel beißender Kritik und als wachsendes Problem Europas in der Schuldenkrise dargestellt. Die SPD übt sich in Abgrenzung. Angriffslustiger als noch beim Berliner Parteitag vor einem Jahr tritt sie auf, kraftstrotzender als beim Dresdner Parteitag vor zwei Jahren, als sie sich personell erneuerte. Acht Landtagswahlen nach der Pleite der Bundestagswahl 2009 haben sich die Machtverhältnisse im Land zugunsten der Genossen verändert. Die SPD fühlt sich wieder gebraucht. Das schier unbändige Selbstbewusstsein hat - so scheint es zumindest am Sonntag - einen namentlichen Grund: Helmut Schmidt.
Der Altkanzler aus Hamburg sitzt im Rollstuhl und zündet sich eine Mentholzigarette an. Die Delegierten haben ihm bis eben stehend applaudiert. Jetzt jubeln sie. Die Luft im dicht gedrängten Saal ist schon dünn, und es ist viel zu warm, aber Schmidt darf natürlich nach seiner Rede rauchen. "Wir brauchen auch ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Freunden und Nachbarn", hat er zuvor in einem seiner letzten Sätze seiner europapolitischen Grundsatzrede gesagt. "Und das gilt ganz besonders für Griechenland."
Ohne die europäische Integration drohe allen Staaten in Europa die Marginalisierung in der Welt. Und der 92-Jährige fürchtet vor allem, dass Deutschland in seiner momentanen Rolle seinen eigenen Beitrag zu solch einer Entwicklung beitragen könnte. Von einer "wachsenden Besorgnis vor deutscher Dominanz" spricht Schmidt. Er nimmt Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) aufs Korn. Dessen Aussage, in Europa werde wieder Deutsch gesprochen, beschreibt Schmidt als deutsch-nationale Kraftmeierei. Es dürfe nicht vergessen werden, dass der Wiederaufbau in Deutschland ohne Hilfe der westlichen Siegermächte, ohne die Einbettung in Europa und ohne den Marshallplan nicht möglich gewesen sei. Die Deutschen hätten eine historische Pflicht, in der EU Solidarität zu zeigen. Deshalb sei Hilfe "unerlässlich".
+++Lesen Sie hier die Rede von Helmut Schmidt beim SPD-Parteitag+++
Die Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung ist unverhohlen. Doch der frühere Bundeskanzler hält eine Rede, die er nicht als rein sozialdemokratische Wahlkampfhilfe verstanden wissen will. Er erinnere sich, wie er "heute vor 65 Jahren mit Loki auf dem Fußboden kniend Einladungsplakate für die SPD in Hamburg-Neugraben gemalt habe". Er müsse zugleich bekennen: "Im Blick auf alle Parteipolitik bin ich altersbedingt schon jenseits von Gut und Böse angekommen. Schon lange geht es mir in erster und in zweiter Linie um die Aufgaben und die Rolle unserer Nation im unerlässlichen Rahmen des europäischen Zusammenschlusses." Europa werde kein Bundesstaat im 21. Jahrhundert, dürfe aber auch nicht zu einem Staatenbund verkommen. Schmidt mahnt, Sozialdemokraten müssten zur Entfaltung dieses Bundes beitragen. "Ich als ganz alter Mann halte immer noch fest an den drei Grundwerten des Godesberger Programms: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität."
13 Jahre hat die SPD auf einen solchen Auftritt Schmidts bei einem Parteitag warten müssen. Lange war sie mit ihrem Kanzler der Jahre 1974 bis 1982 nicht so recht warm geworden. Zuletzt hatte Schmidt 1998 zur Partei gesprochen, als Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten gewählt wurde. Bei der Frage, wer für die SPD 2013 als Kandidat ins Rennen geschickt werden soll, hält sich Schmidt zurück. Seine Präferenz für Ex-Finanzminister Peer Steinbrück ("Er kann es") ist bekannt.
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Auch die Parteitagsliturgie zollt dem Wettkampf des Dreigestirns aus Parteichef Sigmar Gabriel, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und dem derzeit ämterlosen Steinbrück Tribut. Alle dürfen sie große Reden halten - fein säuberlich sortiert auf jeden der drei Tage des Parteitreffens. Den Anfang macht Steinmeier. Wie Schmidt fordert er ein Mehr an Europa in der Krise. Und er übt sich in einer Rhetorik, die auch "ein wenig Pathos" zulässt, wie er selbst zugibt. "Wir in Europa lassen uns von den Märkten nicht auseinandertreiben", ruft er in den Saal. Deutlicher als Schmidt knöpft sich der Oppositionsführer im Bundestag die Kanzlerin vor. Er wirft ihr "penetrante und doppelzüngige Schulmeisterei" vor. Wer andere Länder zum Sparen auffordere, müsse zuvor seine Hausaufgaben machen. Stattdessen habe Schwarz-Gelb die Neuverschuldung erhöht. "Heuchelei ist das, nichts anderes." Man wird den Eindruck schwer los, dass Steinmeier einige Äußerungen auf ihre Marktplatztauglichkeit erprobt. "Die EU gehört nicht den Konservativen, nicht den Experten und nicht den Märkten, sondern den Menschen", ruft er. "Wir sind die Europapartei!"
Diejenigen, die mit der Stoppuhr die Länge des Applauses für Steinmeiers Rede messen, stellen fest, dass die Begeisterung für seine kämpferisch vorgetragene Rede sich in Grenzen hält. Die ganz große Parteibegeisterung soll an diesem Tag ganz klar Helmut Schmidt gehören - ohne Rücksicht auf mögliche Kanzlerkandidaten.
Die Rede von Helmut Schmidt im Wortlaut unter www.abendblatt.de/spd-schmidt