Das niedersächsische Schnega ist gespalten: Landwirt will Maststall für 40.000 Hähnchen bauen. Massentierhaltung oder Öko-Terror?
Zum Beispiel die Familien Janz und Bäthge. Die Janzens betreiben Schnegas einzige Hausarztpraxis, die Bäthges sind die ersten Bauern am Ort, ihnen gehört viel Land, im Ortsteil Billerbeck wohnen beide Parteien Haus an Haus. Die Janzens züchten nebenbei Hochlandrinder, auf einer von Bäthges gepachteten Weide, beide Familien besitzen auch Pferde, und so ritten Dörte Janz und Renate Bäthge regelmäßig gemeinsam aus. Man kann wohl sagen, es bestanden beste nachbarschaftliche Beziehungen, fast eine Freundschaft.
Bis zu der Sache mit dem Stall. Die Bäthges wollen ihn bauen, die Janzens sind dagegen. Im Wartezimmer ihrer Praxis legten sie eine Liste aus, in der konnte sich jeder Patient eintragen, der den Stall auch verhindern will. Bauer Bäthge zitierte die Janzens zu sich nach Haus. Er meinte, als Arzt habe man viel Einfluss, und den dürfe man doch nicht so ausnutzen, nicht in dieser Weise. Die Janzens sagten, die Listen bleiben liegen. Seit diesem Abend reiten Dörte Janz und Renate Bäthge auf getrennten Pfaden. Die Bäthges besuchen jetzt eine andere Praxis in einem anderen Ort. Immerhin, man grüßt sich noch, man sieht sich ja so oft. Bernd Lachmann, Peter Bäthges Stallbau-Partner, grüßt gar nicht mehr, und einige andere Familien werden scheinbar gar nie mehr krank. Dörte Janz sagt, es komme ihr vor, als habe sie längst keine reine Hausarztpraxis mehr, sondern eine politische Praxis dazu. Dann sagt sie: "Bei uns in Schnega ist alles verquickt."
Schnega, das ist eine beschauliche 1400-Seelen-Gemeinde im Wendland, anderthalb Autostunden südöstlich von Hamburg. Sie hat einen kleinen Bahnhof, eine Kreissparkasse, eine Volksbank, einen Tante-Emma-, einen Elektro- und einen Antiquitäten-Laden, eine Tanke, zwei Autowerkstätten, ein Hotel-Restaurant, eine schöne alte Kirche sowie einen malerischen Mühlenteich nebst angrenzendem Naturschutzgebiet. Ein hübscher Ort, eigentlich. Seit nunmehr zwei Jahren soll Schnega aber diesen Stall bekommen, zumindest nach dem Willen der Bauern Lachmann und Bäthge. Seitdem ist im Dorf nichts mehr wie vorher.
Dort, wo dereinst der Stall hin soll, 75 mal 21 Meter auf einer großen Wiese rund eine Meile vom Ortskern entfernt, ist fürs Erste nur eine große Sandbrache zu sehen, vor der steht Bernd Lachmann und sucht nach Erklärungen. Lachmann, 45, ist ein Mann mit großen Händen und schmalen Augen, seine Sprache ist die des stetig Missverstandenen, seine Gestik die von einem, dem übel mitgespielt wird.
Die Ausgangslage ist einfach: Lachmann und Bäthge suchten nach neuen Ertragswegen für die darbende Branche und fanden Wiesenhof, Deutschlands größten Hühnerfleischproduzenten. Das Unternehmen will expandieren, denn der Bedarf nach billigem Hühnerfleisch steigt, national wie weltweit: 2010 verzehrten die Deutschen pro Kopf 19,3 Kilo, 2,6 Prozent mehr als 2009 und rund zehn Prozent mehr als vor fünf Jahren. Folglich müssen neue Ställe zur Hühnermast her, am besten in Regionen, wo es bisher wenig Mastbetriebe gibt. Wie im Wendland.
Der Deal geht so: Wiesenhof liefert Küken und Futter, holt die fertigen Hühner ab, bringt sie zum eigenen Schlachthof und bis in die Ladentheke. Für die Mast ist allein der Bauer verantwortlich. Pro "Durchgang" mästet er bis zu 39 900 Tiere, bringt sie in 30 bis 40 Tagen von 30 bis 50 Gramm auf 1500 bis 2500 Gramm Körpergewicht. 500 000 Euro muss der Bauer für den Stall hinlegen, auf eigene Rechnung, dem steht bei guter Marktlage bis zu 36 000 Euro Gewinn pro Jahr gegenüber, umgerechnet bis zu sieben Cent pro geschlachtetem Tier. Bauer Lachmann sagt, das sei ein gutes Geschäft. Solide, langfristige Verträge, eine "geschlossene Integrationskette". Im März 2009 stellte er seinen Plan der Gemeinde vor, von da an ging es hin und her. Seit diesem März liegt die Baugenehmigung vor. Alles klar so weit. Wenn da nicht die ständigen Schreckensmeldungen wären: ein DIN-A4-Blatt Platz pro Huhn im Stall, 26 Hühner pro Quadratmeter. Penetranter Gestank. Schädliche Keime in der Abluft. Verhaltensgestörte Tiere, die auf ihrem eigenen Kot krepieren. Antibiotika in Dung und Grundwasser. Und wenn sie nicht wären, Unworte wie "Hühner-KZ", verbreitet von den Aufwieglern der Gegenseite. Lachmann und Co. könnten sofort mit dem Stallbau beginnen, aber sie zögern. Angst vor Unwägbarkeiten? "Es ist schon seltsam: Wir halten uns an alle Vorschriften, und dann kommen Leute, die besetzen deinen Platz, und du kannst nichts tun. Ich hätte nie gedacht, dass es so extrem werden würde."
Natürlich kennt Bernd Lachmann die Leute von der Gegenseite. Man war früher im selben Sportverein, ging gemeinsam aufs Schützenfest. Heute wechselt Lachmann mitunter den Bürgersteig im Dorf - besonders wenn die Chefin des Schnegaer Kindergartens auftaucht, das ist die, die mit den Kindern Hühnerköpfe bastelte und ins Fenster hängte, als kleines Zeichen des Protests. Oder wenn ihm Holger Holzhausen begegnet.
Holzhausen, studierter Jurist, ist Schnegaer von klein auf, ein pfiffig wirkender 47-Jähriger, der lange in Berlin lebte und sich nun mit Familie und zwei Kindern dem Landleben widmet, als Hausmann und engagierter Bürger. Mit Bernd Lachmanns älterer Schwester ist er zur Schule gegangen, mit Renate Bäthge hat er Sportkurse besucht. Heute ist er einer der Köpfe der "BI gegen Hähnchenmast in Schnega". BI steht für Bürgerinitiative, aber das braucht man im Wendland keinem mehr zu erzählen. Seit zwei Jahren machen Holzhausen & Co. nun Front gegen den Stall; viel Geld und Zeit haben sie investiert, eine Portion Nüchternheit und Pragmatismus jedoch erhalten. Es gehe ihnen nicht um naive Weltverbesserei, das ist ihm wichtig. "Wir wollen keinen Aufstand", sagt er. "Wir wollen nur, dass der Unsinn, der hier passiert, an die Öffentlichkeit kommt."
Der Unsinn hat für Holzhausen mehrere Facetten. Zunächst der Gestank, hart an der Grenze des gesetzlich Erlaubten. Dann die im Stall massiv konzentrierten Krankheitskeime (Bioaeresole, Biotoxine, Endotoxine), die durch die Abluft, den Kot oder durch Transporte in der Gegend verteilt werden und Atemwegserkrankungen fördern können, wie unabhängige Studien ergaben. Und schließlich die Image-Frage. Der Landkreis hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt, auch als Anreiz für Tourismus und Investoren. Die Eckpunkte: 100 Prozent Stromversorgung durch regenerative Energien. 100 Prozent artgerechte Tierhaltung und 50 Prozent ökologische Landwirtschaft. Holzhausen vermeidet das Pathos des Tierschützers, er sagt nur: "Diese Art Hühnermast schadet unserem Renommee."
Es sind zwei Welten, deren Gegensätze das ganze Land zunehmend prägen und die nun an einem Ort aufeinanderprallen, wo man sich kaum aus dem Weg gehen kann. Da ist die Holzhausen-Welt, in der Ökologie und Ökonomie sich versöhnen lassen, in der mündige Bürger selbst entscheiden, wie sie leben und welche ethischen Maßstäbe gelten sollen. Und in der ein Bewusstsein dafür herrscht, dass gutes Gewissen nicht zum Discount-Preis zu haben ist. Und da ist die Lachmann-Welt, in der das Leben ist, wie es ist, einem nichts geschenkt wird und man nehmen muss, was man kriegt. Die Holzhausen-Welt mag medienaffiner und eloquenter sein, die Lachmann-Welt dominiert bis heute weite Teile der Republik. Oder in Bernd Lachmanns Worten: "Wir sind jetzt die Buhmänner. Dabei hat es der Verbraucher selbst in der Hand. Viele wollen billiges Fleisch, gerade größere Familien können sich Bio-Standards nicht leisten. Dann sollten sie uns aber auch nicht als Tierquäler beschimpfen."
Es gibt noch eine dritte Welt, die man in Schnega eher selten sieht und die in Niedersachsen doch mächtiger ist als im Rest Deutschlands. In der "konventionellen" Hühnermast ist das Land führend, mehr als die Hälfte der deutschen Betriebe sind hier, darunter die Branchenführer Wiesenhof und Rothkötter. Es gibt riesige Etats, globalen Wettbewerb und Seilschaften zwischen Politik und Konzernen.
Letztere liefern sich seit Jahren einen knallharten Preis- und Umsatzkampf. Neue, riesige Schlachthöfe entstehen, andere werden ausgebaut, immer mehr Hühnernachschub muss her, also tourten die Vertreter von Wiesenhof & Co. zuletzt in Scharen durchs Land, um Maststall-Bauern zu akquirieren. Was die Bauern auf den Werbeveranstaltungen zu hören bekommen, hat mit objektiven Informationen wenig zu tun - so zumindest sieht es Eckehard Niemann. Der 63-jährige Ex-Landwirt ist Mitglied des alternativen Bauernverbands AbL und im Landkreis ein prominentes Gesicht. Für Niemann steht fest, dass der Wettkampf der Konzerne um Mastbauern für Letztere verhängnisvoll enden wird. Schon jetzt verdiene in der Branche kaum mehr jemand was, die Preisschlachten seien ruinös, die Wachstumsprognosen geschönt. "Wer sich jetzt mit einer halben Million verschuldet, ist für Jahrzehnte dem Markt und den Konzernen ausgeliefert. Konventionelle Mastställe sind wirtschaftlich unsinnig und tierhalterisch eine Katastrophe. Wir sollten endlich zu einer Landwirtschaft zurückfinden, deren Methoden man dem eigenen Volk zeigen kann."
Richtig ist, dass die Hühnermäster alles tun, damit niemand sieht, wie es in ihren Ställen zugeht, weil andernfalls der Konsum wohl selbst unter passionierten Chicken-Fans einbrechen würde. Ein paar Fakten: Die heute gängige Maststall-Sorte wurde so gezüchtet, dass sie nie satt wird und immer weiter frisst, solange im Stall Licht brennt. Es soll schnell gehen, 40-faches Gewicht innerhalb eines Monats, bei konstant 33 Grad, der Stall wird nicht gereinigt und die Tiere stehen zeitlebens auf ihrem Unrat. Es ist ein qualvolles Dasein: Skelett und Kreislaufsystem halten dem Wachstum nicht stand, die Tiere können sich kaum koordiniert bewegen, was sie mit zunehmender Größe aber eh kaum können, siehe DIN-A4-Blatt. Viele haben Exzeme am Fußballen, des Kots wegen, rund jedes 20. Huhn überlebt den Monat nicht. Der Rest wird mit Antibiotika durchgebracht. Deren durchgängige Verabreichung an Hühner ist seit 2006 verboten, dennoch nimmt ihr Einsatz zu. Offiziell 2,3-mal pro Durchgang wird jedes Tier behandelt, rund ein Drittel seines Lebens kriegt ein deutsches Massenmasthuhn Antibiotika, schätzen Experten.
Was Konzerne wie Bauern unterschätzt haben: Im Wendland geht das nicht so leicht. Seit Wandervogel-Zeiten zieht die Region alternative wie aktionsfreudige Leute an, erst Anthroposophen, dann Hippies, heute Grüne, Atomkraftgegner und Aussteiger aller Couleur. Die Anti-Hühner-BIs sind Gorleben mit anderen Vorzeichen. Hier billiger Atomstrom, dort billiges Federvieh. Nur dass die Hühnerfront mitten durch die Bauernschaft verläuft.
Viel Erfolg hatten Wiesenhof & Co. unter den ansässigen Landwirten bislang nicht, die Akquisezahlen liegen weit unter den Erwartungen. Dafür verlieren die Maststallaspiranten langsam die Geduld. Als Mitglieder der Initiative "Ich wollt ich wär kein Huhn" im Juni das Schnegaer Stallgelände besetzten, beendete Bauer Bäthge das Picknick mit seiner Beregnungsanlage. Im Nachbarort Teplingen, wo ein weiterer Maststall im Bau ist, planierten Bauern mit ihren Traktoren recht rüde das vor Ort errichtete Zeltlager, in dem Stallgegner übernachtet hatten. "Es hat fast was von Bürgerkrieg", sagt Jens-Christian Bähre, 39, der in Teplingen dabei war und von seinem Grundstück am Schnegaer Bahnhof aus mit großen Schildern den Stall kritisiert. Bähre sieht die Eskalation mit Sorge - ihm selbst wurden mehrfach Schilder gestohlen oder demoliert, zweimal Autoscheiben eingeschlagen. Vergangene Woche schließlich ging in Alvesse bei Braunschweig ein Maststall in Flammen auf, die Polizei vermutet Brandstiftung. Es ist schon der zweite Stall innerhalb eines Jahres, den militante Mastgegner anzünden. Bringen gequälte Hühner nun die Gewalt auch ins friedliche Wendland?
Gott bewahre, sagen beide Welten, die der Lachmanns wie die Holzhausens. Vor ein paar Tagen trafen beide in der Kreishauptstadt Lüchow aufeinander. Die BIs von Schnega und Teplingen hatten zum Info-Treff auf den Marktplatz eingeladen, 200 Leute kamen, trotz Nieselregens und Schulferien. Bernd Lachmann und Peter Bäthge waren auch da, mit Familien, Freunden und Kollegen beobachteten sie vom anderen Bürgersteig aus still das Treiben, ausgerüstet mit Plakaten wie "Keine Hetze gegen Bauern im Wendland". Als die Reden begannen, wechselten sie die Straßenseite und kamen näher. Eckehard Niemann stieg als Letzter aufs Podium. "Kommen Sie hoch! Sagen Sie Ihre Meinung!", rief er Lachmann & Co. zu. Nach seiner Rede kamen sie dann tatsächlich, umringten ihn mit Fragen. Immerhin, man sprach miteinander. Am Ende vereinbarten beide Seiten, sich wiederzutreffen. Niemann sagte zu, sich auf einem Bauerntreff erneut der Diskussion zu stellen. Für ein paar Momente wirkten alle zufrieden. Ein Ende, ja, vielleicht auch ein Anfang.