Die neue Webseite lebensmittelklarheit.de konnte den Ansturm nicht bewältigen. Grund seien bis zu 20 000 Besucher pro Sekunde.
Berlin. Das neue Verbraucherportal im Internet, das Täuschungen bei Lebensmitteln aufdecken soll, ist am Mittwoch kurz nach dem Start wegen zu vieler Nutzer in die Knie gegangen. Die Seite www.lebensmittelklarheit.de war über Stunden nicht oder nur schwer erreichbar. „Wir haben alles an Kapazität gegeben, was wir konnten, aber der Ansturm – über den wir uns natürlich sehr freuen – war einfach zu groß“, sagte Ute Bitter, Sprecherin der Verbraucherzentrale Hessen, die das Angebot betreut.
Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) und die Verbraucherzentralen hatten das Projekt am Vormittag in Berlin offiziell gestartet. Über die Seite können Verbraucher Produkte melden, wenn sie der Meinung sind, dass Verpackung und Verpackungsangaben Eigenschaften und Inhalte vorgaukeln, die das Produkt gar nicht hat. (dpa)
Lesen Sie dazu auch: Informationen gegen Lügen direkt an der Ladentheke
Es geht um Käse, der eigentlich keiner ist, um Schinkenimitate, die weniger aus Fleisch als aus Stärke-Gel bestehen, um Erdbeerjoghurt ohne Erdbeeren. Nicht immer finden Verbraucher in den Lebensmittelpackungen das, was sie erwarten. Heute will Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) eine Internetseite für Verbraucher freischalten, die sich durch die Aufmachung von Produkten oder eine entsprechende Werbung getäuscht fühlen. Das Portal lebensmittelklarheit.de soll Beschwerden über Schummeleien und falsche Angaben auf Lebensmittelverpackungen sammeln und öffentlich machen. Während Verbraucherschützer die Ministerin loben und von einem Schritt zu mehr Offenheit sprechen, reagieren ausgerechnet Aigners Koalitionspartner von der FDP verhalten.
"Wir sehen die Umsetzung auch kritisch", machte der verbraucherschutzpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Erik Schweickert, gegenüber dem Abendblatt deutlich. "Viele Firmen, die sich an die Gesetze halten, könnten trotzdem an den Pranger gestellt werden", so seine Befürchtung. Als Beispiel nannte er die mögliche Verwirrung um Herkunftsorte von Produkten: "Wenn etwa ein Unternehmen Schwarzwälder Schinken herstellt, dann muss das Tier hierfür nicht aus dem Schwarzwald kommen, sondern nur der Schinken muss dort geräuchert worden sein. Das hat der Gesetzgeber so festgelegt." Es dürfe folglich nicht sein, dass bestimmte Hersteller von Schwarzwälder Schinken auf dem Portal dafür angeprangert werden, weil das Tier nicht aus dem Schwarzwald stamme, so der FDP-Politiker. Schweickerts Warnung: "Wenn Produktgattungen bei Verbrauchern zu Fehleinschätzungen führen, dürfen auf keinen Fall die Hersteller für etwas angegriffen werden, das sie nicht verantworten." Grundsätzlich sprach er sich jedoch für das Portal aus, da man wissen müsse, ob die staatlicherseits vorgegebenen Kennzeichnungsvorschriften für Lebensmittel für die Verbraucher ausreichend verständlich seien.
Die ernährungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Christel Happach-Kasan kritisierte, dass die Internetseite falsche Prioritäten setze. Die EHEC-Epidemie habe gezeigt, dass bei Lebensmitteln nicht gefühlte Täuschungen durch irreführende Etiketten das Problem seien, sondern Verunreinigungen mit Bakterien. "Öffentlich finanzierte Stellen sollten über Hygienemaßnahmen aufklären, statt sich mit irreführenden Produktbezeichnungen zu beschäftigen", sagte die FDP-Politikerin. "Privater Erfahrungsaustausch gehört auf private Portale." Silke Schwartau, Leiterin der Ernährungsabteilung bei der Hamburger Verbraucherzentrale, sieht in dem Portal "keinen Pranger, sondern ein öffentliches Dialogforum". Sie könne die Kritik in dieser Heftigkeit nicht verstehen. "Es ist nun mal so, dass die Gesetze zu lasch sind und die Verbraucher sich gegen Etikettenschwindel wehren wollen."
Laut Aigner, deren Ministerium das durch die Bundes-Verbraucherzentrale und die hessische Verbraucherzentrale umgesetzte Projekt finanziell fördert, soll lebensmittelklarheit.de auch allgemeine Informationen geben und Fragen beantworten. Genügend Informationsbedarf gibt es ihrer Meinung nach: Gestern veröffentlichte ihr Haus eine repräsentative Forsa-Umfrage, nach der etwas mehr als ein Drittel (36 Prozent) der Deutschen die Kennzeichnung der meisten Produkte für "nicht ausreichend oder lückenhaft" hält. Knapp ein Drittel (31 Prozent) beschreibt sie als "überfrachtet und unüberschaubar". 56 Prozent der Befragten, darunter überdurchschnittlich viele ältere Menschen, finden die Auflistung von Zutaten auf Lebensmittelverpackungen selten oder nie klar verständlich.
Nach Angaben des Chefs des Bundesverbandes Verbraucherzentralen, Gerd Billen, werden ab heute "ein paar Dutzend Produkte" im Netz stehen. Mehr als ein hundert Verbrauchermeldungen seien schon eingegangen, die derzeit geprüft würden. Dass Unternehmen gegen das neue Verbraucherportal klagen könnten, betrachtet die Verbraucherministerin derzeit mit Gelassenheit. "Noch bevor die Internet-Adresse freigeschaltet wurde, haben einige betroffene Hersteller bereits bei der Kennzeichnung ihrer Produkte nachgebessert", hatte Aigner Anfang der Woche betont. Für Bärbel Höhn, stellvertretende Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, ist das allerdings noch kein ausreichender Beweis für die Wirksamkeit der Internetseite: Die Plattform sei kein Ersatz für gesetzliche Regelungen gegen irreführende Werbung und für eine transparente und leicht verständliche Etikettierung, sagte Höhn dem Abendblatt.
"Verbraucherschutzministerin Aigner darf hier die Verantwortung nicht allein den Konsumentinnen und Konsumenten aufbürden", kritisierte die Grünen-Politikerin. Bei der Kennzeichnung habe Aigner bisher nur wenig Rückgrat gegenüber der Lebensmittellobby gezeigt. Höhn lobte dagegen die seit Jahren von Verbraucherschützern geforderte und "von Ministerin Aigner aktiv bekämpfte" Nährwertampel. "Mithilfe der Nährwertampel könnten die Verbraucher mit einem Blick erkennen, welche Lebensmittel zucker- und fettreiche Dickmacher sind oder zu viel Salz enthalten", warb die Grünen-Politikerin für das Kennzeichnungsmodell.