Winfried Kretschmann ist bodenständig, bieder und bürgerlich. Im “Ländle“ könnte er der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands werden.
Lörrach/Hamburg. Erst will er nicht so recht. Sanft wehrt Winfried Kretschmann die ältere Dame dort vor ihm ab, die dem gebeugten Riesen gerade eine Pappkrone in die graue Bürstenmähne stecken will. "Ich will doch Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden und nicht der König", verteidigt sich der Grünen-Politiker verlegen. "Och, Herr Kretschmann, bitteee", bettelt ein Fotograf um das schöne Motiv. Der Spitzenkandidat der baden-württembergischen Grünen zögert, schließlich greift er nach dem vergoldeten Papiergebinde. Eine Initiative für das Grundeinkommen hat sie gebastelt. Es ist acht Uhr abends in Lörrach, einer Kleinstadt im äußersten Südwesten der Republik. Im Gemeindezentrum Alte Feuerwache soll Kretschmann gleich eine Wahlkampfrede halten. Überregionale Pressefotografen sind nicht in Sicht, warum sich nicht mal ein Späßle gönnen? Also krönt Kretschmann Kretschmann.
Es ist eine bizarre Szene, die sich da in der Alten Feuerwache abspielt. Zu diesem Zeitpunkt nämlich darf man den gekrönten Kretschmann als einen tragischen Helden betrachten: Es ist Donnerstag, der 10. März - ein Tag vor der Katastrophe von Fukushima. Der Höhenflug in den Umfragen, zu dem der Massenprotest gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 den Grünen geholfen hat, geht gerade in einen Sinkflug über. In einigen Medien ist Kretschmann bereits als künftiger Ministerpräsident im Gespräch gewesen, doch inzwischen haben CDU und Liberale wieder aufgeholt und liegen Kopf an Kopf mit SPD und Grünen.
Während Kretschmann in seinen Reden von "grünen Produktlinien" und mehr Basisdemokratie schwärmt, verweisen die Wahlkämpfer von Schwarz-Gelb beharrlich darauf, dass das Ländle, seit 57 Jahren nonstop von der CDU regiert, wirtschaftlich glänzend dasteht. Winfried Kretschmann, studierter Bio-, Chemie- und Ethiklehrer, 62 Jahre alt und mit kurzen Unterbrechungen seit 30 Jahren im Stuttgarter Landtag auf der Oppositionsbank wie festgenagelt, muss an diesem Abend in Lörrach damit rechnen, dass das bis zu seinem Ruhestand auch so bleiben wird. Ein König mit einer Krone aus nichts als Papier.
Doch einen Tag später bebt die Erde in Japan. Plötzlich flimmern Bilder des schwer beschädigten Atomkraftwerks Fukushima über alle Fernseher, die Rede ist von einer Kernschmelze. Nun legt Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus zusammen mit der Bundesregierung einen abrupten Kurswechsel in der Atompolitik hin. "Ich bin kein Atomideologe", erklärt der CDU-Politiker, der sich für eine Laufzeitverlängerung "15 plus x" starkgemacht hat. Die Wähler kaufen der Regierung den Gesinnungswandel nicht ab. In Umfragen legen die Grünen im Ländle wieder massiv zu auf 25 Prozent, die Sozialdemokraten landen bei 22 Prozent. Schwarz-Gelb rutscht auf 44 Prozent. Das Rennen sei zwar immer noch offen, sagt der Parteienforscher Jürgen Falter. "Die Wahrscheinlichkeit eines grünen Wahlsieges ist aber durch die Atomhavarie enorm angestiegen."
Ein Wechsel in Baden-Württemberg wäre ein mehrfacher politischer Superlativ: "Ein Sieg von Grün-Rot in Baden-Württemberg würde bedeuten, dass das Stammland der CDU fiele, und es würde zeigen, dass die Grünen einen Ministerpräsidenten stellen könnten", sagt Falter. Ein solches Ergebnis habe auch Auswirkungen auf andere Bundesländer wie Berlin, wo am 18. September das Abgeordnetenhaus gewählt wird. "Dort würde die grüne Kandidatin Renate Künast deutlichen Rückenwind erhalten", glaubt der Politologe.
Der Mann, der das alles in der Hand hält, trägt meist Anzug und Krawatte und wirkt so bieder und wertkonservativ, dass er auf den ersten Blick auch Parteifreund von Ministerpräsident Mappus sein könnte. In einem Wahlkampfspot tritt Kretschmann als Gärtner auf, der ein zartes Bäumchen einsetzt. Man sieht den Spot, die geübten Handgriffe - und zweifelt keine Sekunde, dass es sich um seinen eigenen Garten handelt. "Ich bin bodenständig", soll der Spot aussagen - und Kretschmann muss sich für diese Aussage noch nicht mal verbiegen. Der dreifache Vater ist Mitglied im Zentralrat der Katholiken, erst im vergangenen Jahr nahm er an einer Audienz im Vatikan teil. Er ist Mitglied im Schützenverein und erfahrener Alpenwanderer. Von seiner Mitgliedschaft im Kommunistischen Bund zu Studienzeiten hat er sich vor langer Zeit schon distanziert. Seitdem bezeichnet er sich als von extremistischen Ideen geheilt.
Wenige Tage vor der Wahl scheint es so, als ob sich Winfried Kretschmann in Lörrach die Papierkrone zu Recht aufgesetzt hat. Aber ein Selbstläufer sei sein Wahlkampf auch jetzt nicht, knurrt er. "Das bleibt ein knappes Rennen, da muss man kämpfen bis zum Schluss." Deswegen habe er ja auch immer den Ball flach gehalten.
Bälle flach halten, auf dem Teppich bleiben, das sind Sätze, die ihm flüssig über die Lippen gehen. Der Landesvater in Lauerstellung neigt nicht zu Euphorie. Er sagt nur, dass es für einen Wandel eine "Chance" gebe, die Wechselstimmung nennt er oft "vorsichtig". Vielleicht versteht er sich ja wegen dieser Zurückhaltung so gut mit dem SPD-Spitzenkandidaten Nils Schmid, 37. Der Finanzexperte gilt ebenfalls als moderat - und als ein wenig spröde.
Seine Reden gliedert der seit Jahren beurlaubte Lehrer Kretschmann ähnlich streng wie ein Schulseminar. Dabei spricht er langsam und bedächtig, man kann ihm beim Formen der Gedanken förmlich zuschauen. Seit er vor einigen Monaten unter starken Stimmbandproblemen litt, muss er sich oft unterbrechen und so lautstark husten, dass sich Zuhörer unwillkürlich selbst räuspern müssen. Sein Gegner hat das vor einigen Wochen ausgenutzt. Ein Staatssekretär von Mappus deutete an, dass das Amt Kretschmann wohl gesundheitlich zu sehr belasten werde. Dann werde womöglich der Grünen-Bundeschef Cem Özdemir übernehmen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war der alte Recke, der sich seit Jahren mit Regierungschef Mappus duzt, gekränkt. "Diese Kampagne, ich sei nicht gesund, war unanständig und ging unter die Gürtellinie", sagt Kretschmann. Die Stimmung im Stuttgarter Landtag ist mittlerweile frostig geworden zwischen Schwarzen und Grünen, mit denen der frühere CDU-Ministerpräsident Oettinger vor vier Jahren um ein Haar eine Koalition gebildet hätte. Abgebogen wurde das vom damaligen CDU-Landesfraktionsführer - Stefan Mappus. Der nennt Kretschmann zwar einen "anständigen Kollegen". Doch "Kretsch", wie ihn mancher Grüne nennt, tut sich schwer mit Mappus. "Mit Oettinger hat man mit dem Florett gefochten, das lag mir mehr", erzählt er.
Das Milliardenprojekt Stuttgart 21 lehnt der Grünen-Kandidat seit 15 Jahren ab - anders übrigens als die SPD -, versuchte aber immer wieder zu moderieren. "Es darf nicht sein, dass Gegner zu Feinden werden", sagt er. Gleichzeitig bleibt er realistisch genug, den S21-Gegnern nicht zu viel zu versprechen: "Wir setzen alles daran, das Projekt zu stoppen, aber garantieren können wir das seriöserweise nicht." Man wisse ja nicht, welche Aufträge die Landesregierung schon angeschoben habe. "Er ist halt eine ehrliche Haut", seufzt Gangolf Stocker, der Organisator des Stuttgarter S21-Protests. Jemand mit mehr Kampfgeist wäre ihm offenbar lieber.
Ähnlich verhält es sich beim Thema Kernkraft. Kretschmann war schon bei den ersten Atomprotesten in Whyl Ende der Siebzigerjahre dabei, noch heute nimmt er an Anti-Atom-Demos teil. Einen sofortigen Atomausstieg verspricht er trotzdem nicht: Man wolle schnell abschalten, aber man müsse erst mal prüfen, was man machen könne.
Kretschmann ist ein Normalo durch und durch, ein Anti-Fundi innerhalb seiner Partei, die er 1979 nicht aus Lust am Widerstand, sondern aus Liebe zur Natur in Baden-Württemberg mitbegründet hat. "Mit einem Bürgerschreck an der Spitze hätten die Grünen in einem so struktur- und wertkonservativen Bundesland wie Baden-Württemberg keine Chance gehabt", sagt dazu Parteiforscher Falter.
Man könnte sagen, dass dieser Nichtbürgerschreck jede Menge Glück hat. Seine bundesweite Bekanntheit verdankt Kretschmann den Stuttgart-21-Protesten, und nun gibt ihm der Fukushima-Schock neuen Rückenwind. Man könnte aber auch sagen: Vielleicht zahlt es sich manchmal einfach aus, an der eigenen Überzeugung festzuhalten. Auch wenn es 30 Jahre dauert.