Anni, Sieglinde und Stefan. Gemeinsam mit Hunderten Hamburgern machten sie sich gestern auf in den Westen. Ins Epizentrum des Frohsinns.
Eigentlich sollte die Reise um 4.54 Uhr beginnen. Doch eigentlich ist es wie immer, wenn man der Bahn vertraut, denn inzwischen ist es schon 20 Minuten vor sechs und vom Sonderzug "Pappnase" nichts zu sehen. Der Riesenschlumpf auf Bahnsteig 9 in Hamburg-Altona ist schon blau gefroren. Mit ihm bibbern rund 200 norddeutsche Närrinnen und Narralesen in bunten Kostümen aus puscheligem Polyester; am Hauptbahnhof, dem zweiten Haltepunkt, bietet sich zu diesem Zeitpunkt ein ähnliches Bild.
Fünf gestandene Männer in braunen Mönchskutten, Mitglieder des Skatvereins Westerau, bekämpfen dort am Gleis 13 mit "Mischen" das Ärgernis. Bacardi-Cola schmeckt auch am frühen Morgen, runtergespült wird mit Dosenbier. Niemand weiß, was los ist. Angeblich muss ein Wagen ausgetauscht werden. Oder die Lok? "Tut mir leid, ich habe keine Ahnung, und der Ansagebereich ist erst ab sechs besetzt", sagt die DB-Servicepoint-Mitarbeiterin und lächelt bedauernd die Sprecherin der "Wilden Hühner" an, ein Dutzend reifere Damen einer Pilates-Gruppe des SV Westrau, die sich weiße Gockelmützen tief über die Ohren gezogen haben.
Einer der Mönche, Stefan* sein Name, erinnert sich mit Schaudern daran, dass im vergangenen Jahr etwas Ähnliches passierte, allerdings erst auf der Rückreise, als sie zwei Stunden im Kölner Hauptbahnhof auf den Sonderzug warten mussten: "Bei minus fuffzehn Grad, weil angeblich kein Lokführer konnte. Ich komm morgen jedenfalls eine Stunde zu spät inne Firma. Ma' sehen, was mein Chef sacht."
Der Sonderzug fährt mit exakt 60 Minuten Verspätung ein, begrüßt von "Helau"- und "Alaaf"-Rufen. Endlich Wärme, sitzen, bloß wo? Plötzlich sind zwei der Abteilwagen doppelt belegt, wieder weiß niemand warum, bis Mandy Michaelewicz, die Zugbegleiterin, die Reservierungen einfach für ungültig erklärt. "Ist Platz genug für alle", ruft sie, scheucht und schiebt die Jecken in die leeren Abteile und erweist sich für das Chaosunternehmen Bahn als kompetenter Glücksfall. Mandy ist zum dritten Mal dabei, auch wenn sie sich bloß mit ihrer regulären Uniform verkleiden darf. "Auf den Sonderzug sind viele Zugbegleiter richtig scharf, denn das ist mal was anderes, einmal schon morgens verrückt sein!"
Während die norddeutschen Karnevalstouristen auftauen und sich mit Stullen und Frikadellen aus der Tupperbox und Likörchen stärken, schieben die Discjockeys Jürgen Goedecker und Wolfgang Frankenberg in den beiden Tanzwagen in der Mitte des Zuges mutig die Regler hoch: "Komm, hol das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer!" Über die Bordlautsprecher pflanzt sich der Ruf durch den ganzen Zug fort und rasch füllen sich die beiden Tanzwagen im Viervierteltakt mit Menschen, die endlich ihr wahres Gesicht zeigen können. Unter Gleichgesinnten.
"Ich find das so schön, ich mach gerne jeden Blödsinn mit - aber wann kann man das schon mal?", sinniert Anni und lächelt, beinahe entrückt. Sie ist Ergotherapeutin, arbeitet in Rickling in der Psychiatrie, auf der Geschlossenen. Anni hat sich als Edelpunkerin verkleidet, mit Lack und Leder, und ihre Brüste in eine Korsage gequetscht. Sie wippt im Takt der Musik und kippt einen selbst gemachten Sahnelikör ("Gin, Maracujasaft, Wodka, Vanille und Süßstoff!") ihrer Freundin Marina, heute nicht als Altenpflegerin, sondern als erotisches Pippi-Langstrumpf-Double unterwegs. Die Frauen, beide um die 30, haben ihre Freunde zu Hause gelassen. "Uns geht's nicht ums Abenteuer, echt nicht", verspricht Anni treuherzig, "es geht nur ums Ausflippen!"
Als Andreas Martin mit ungefähr 95 Dezibel "Ich fang dir den Mond!" schmettert, fängt sich Wolfgang, ein Maler aus Bergedorf, etwa auf Leberhöhe den Ellenbogen einer muskulösen Vampyrette in Netzstrümpfen ein. Das Gedrängel in den Gängen und auf der Tanzfläche schreit nach Vollkontakt. Wolfgang trägt seinen Vollbart akkurat gestutzt und hat seinen Tagesausflug ebenso minutiös wie schon lange im Voraus geplant. "Ich habe alles im Griff", sagt er, ganz Sheriff, greift in die Innentasche seines Cowboykostüms und holt einen Umschlag mit zusammengetackerten Reiseunterlagen heraus. "Wenn ich feiere, will ich keine Überraschungen erleben!" Wichtig sei vor allem, dass "Hundertmark" in Hamburg viel zu teuer sei, was seine originalen Westernklamotten betreffe: "Mein Ensemble hab ich voriges Jahr in Köln-Gürzenich gekauft, inklusive Lederholster, der zwölfschüssigen Knallplätzchenpistole, Modell Peacemaker in Originalgröße und schwerer Druckgussqualität, sowie diesem Marshall-Stern - massiv, von gehobener Qualität!", sagt er und schildert detailverliebt, wo er den "Zoch" an sich vorbeiziehen lassen will. "Ich nehme vom Hauptbahnhof die grüne Linie, drei Stationen bis zur Severinbrücke, denn da ist es nicht so voll. Natürlich flippe ich auch aus, aber immer mit Niveau", sagt er und nippt an einer Flasche mit stillem Wasser. "Ist ja noch ein langer Tag!" Er steht im Gang vorm Eingang zum Partywaggon, weit genug weg von der donnernden "Hölle, Hölle, Hölle!" eines Wolfgang Petry, aber immer noch nah genug, um sich selbst als Spaßbremse dazugehörig zu fühlen. Mit dem Halt in Bremen schwappt dann noch mal eine Extraportion Ekstase in die Tanzwagen. "Klar, denn traurige Absteiger saufen gut!" Da ist Wolfgang sich sicher.
Eine Gruppe "Häsinnen", mit Puscheln aus Tüll am Po, in hautengen schwarz-rosa Gymnastikanzügen, durchnummeriert von 1 bis 16 und mit blinkenden Löffeln auf den Köpfen, tankt sich durch den Zug, der von nun an erst wieder in Düsseldorf halten wird. Sie sind schon in Rotenburg/Wümme zugestiegen, gemeinsam mit den rothaarigen "Kürbissen" und den lila-weiß gefleckten "Milka-Kühen", die von sich behaupten, sie seien die "Zarteste Versuchung". So steht es auf den T-Shirts der Frauen geschrieben, alle im Alter zwischen 30 und 40, die jetzt fast alle nur noch eins wollen: "Pipi machen." Denn die Hälfte ihres Prosecco-Vorrats haben sie schon auf dem Bahnsteig vernichtet. Dummerweise sind jedoch etwa zwei Drittel der Toiletten des Sonderzugs bereits seit Tostedt verstopft und laufen über. Zugbegleiterin Mandy weiß aber, wo man sich noch einigermaßen trockenen Fußes erleichtern kann, doch wer im hinteren Teil des Zuges muss, muss sich nun durch den ganzen Zug nach vorne drängeln.
Sieglinde aus Bremen hat ihren Ehering kurz nach dem Einsteigen diskret abgenommen und in ihr Handytäschchen gesteckt. Offensichtlich ist sie von dem enthemmten Höhlenmenschen fasziniert, der seine aufblasbare Keule wie einen Riesenphallus vorm Hosenschlitz aufreizend durch die Luft kreisen lässt. Die Tanzenden im Rausch - "Kann ich einmal nicht bei dir sein, damm damm - damm damm" - halten respektvollen Abstand, Sieglinde nicht. Sie tanzt sich ran und blockiert den Weg für die Häsinnen.
"Das sollte bestimmt mal ein Bein werden", sagt Ralf mit einem anerkennenden Blick auf die Keule. Er arbeitet in einer Norderstedter Schokoladenfabrik, hat wie immer am Rosenmontag einen Urlaubstag geopfert und einen Bauch wie ein Fass. Was prima zu seiner braunen Mönchskutte passt. Die Sonderfahrt zum kollektiven Ausnahmezustand macht Ralf mit seinem Kumpel Oliver, der bei der Telekom angestellt ist, nun schon im 17. Jahr mit. Und in all diesen Jahren stehen die beiden immer am selben Platz, an der Tresenecke, dort, wo es am engsten ist und wo sich alle vorbeischieben müssen. "Wir steuern eisenhart auf die 20 zu, nich?!", ruft er Olli zu und klatscht ihm auf die linke Schulter, "die wollen wir noch auf jeden Fall vollkriegen!" Dann wendet er sich an Gaby hinterm Tresen, die jetzt, kurz vor Münster, jeden, aber auch wirklich jeden Schlager mitsingt und augenscheinlich in der Lage ist, den Gästen die Bestellungen von den Lippen abzulesen. Gaby fährt schon seit 25 Jahren in den Partywagen der Bahn, aber die Fahrten in die Karnevalshochburgen sind ihr die liebsten: "Die Menschen sind fröhlich, haben gute Laune, wollen feiern - was willste mehr? Und auf der Rückfahrt sind sie dann alle ganz müde und ganz lieb!" Noch nie, sagt Gaby, habe sie auf einer dieser Reisen Ärger erlebt.
Franziskanermönch Ralf ordert mit einem Fingerzeig zwei neue "Beck's". 4,40 Euro, bitte sehr, das seien doch zivile Preise, sagt er. "Das hier ist die geilste Party, um vorzuglühen! Mit 'm Auto kannste das vergessen. Allerdings, wenn ich an letztes Jahr in Düsseldorf denke ..." Auf den oberen Rand seines Brillengestells hat Ralf zwei goldgelbe Bierhumpen aus Pappe geklebt.
"Da ha'm einige die Jecken, die nach Düsseldorf wollten, einfach nich' aus'm Zug rausgelassen", vollendet Kumpel Olli, der bloß einen kleinen Partyhut trägt, die Geschichte einer dramatischen Freiheitsberaubung, "weil das is' eben Düsseldorf und nich' Köln, weil doch so 'ne Rivalität zwischen die beiden Städte is'!"
Ein bisschen weniger strenge, aber dennoch spürbare Rivalität und Konkurrenzdenken herrscht in der Kostümfrage: Bei den Männern ist die Sache klar, es überwiegen Finkenwerder Fischerhemden, Cowboykostüme, Mönchskutten, Polizeiuniformen und Arztkittel. Allein reisende Frauen geben sich wild, wenn sie in Gruppen reisen, herrscht Uniformität - doch auf jeden Fall mehr Sorgfalt als bei den Männern. Kurz vor Köln riecht es im ganzen Zug nach Haarspray und vor den verfügbaren Spiegeln wird noch mal letzte Hand an die Kriegsbemalung gelegt.
Ein Jeck wird ganz genau in Augenschein genommen. Nicht wegen seines kreischend gelben Hawaiihemdes, sondern weil die Brandnarben in seinem Gesicht so echt aussehen. Da stimmt jedes Detail, bis hin zur verkrüppelten Nase. Erst als Raimund sein Schnapsgläschen zum Mund führt, sieht man, dass auch seine Hände etwas abbekommen haben, bei der Gasexplosion damals, wegen der er ein Jahr in der Boberger Spezialklinik für Brandverletzte liegen musste. Einige seiner Finger sind zusammengewachsen und von Narbengewebe überzogen. Raimund lächelt. "An die Verwechslung habe ich mich inzwischen gewöhnt", sagt er, "aber ganz ehrlich: Es hat schon Jahre gedauert, bis ich mein neues Gesicht akzeptieren konnte." Da ist dann für einen Moment lang Schluss mit lustig.
* Namen ohne Gewähr