Die Mutter der verunglückten Kadettin erhebt schwere Vorwürfe. Wie es auf der “Gorch Fock“ zugeht, erzählen ehemalige Besatzungsmitglieder.
Hamburg. In der Affäre um die angebliche Meuterei auf der "Gorch Fock" hat sich gestern die Mutter der verunglückten Offiziersanwärterin Sarah Lena S. zu Wort gemeldet. "Ich fordere, dass der Kommandant Schatz seinen Hut nimmt und die ,Gorch Fock' eingemottet wird", sagte sie der "Deister- und Weserzeitung". Sarah Lena S. war am 7. November 2010 im brasilianischen Hafen von Salvador da Bahia beim Segelsetzen aus 27 Meter Höhe auf das Schiffsdeck gestürzt. Die 25-Jährige erlag im Krankenhaus ihren Verletzungen.
Der Unfalltod löste schwere Auseinandersetzungen auf dem Segelschulschiff der Marine aus. Zwischen Kadetten und Schiffsführung kam es nach einem Bericht des Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus zum Streit. Die Offiziersanwärter sollen sich geweigert haben, auf Druck ihrer Vorgesetzen in die Takelage zu steigen.
Die Mutter der verstorbenen Offiziersanwärterin sagte, sie sei den Kadetten "richtig dankbar, dass sie den Mut gefunden haben, sich aufzulehnen gegen das, was da auf dem Schiff alles passiert". Nach ihren Angaben verweigert die Marine der Familie nähere Informationen zu den Umständen des Unfalls von Sarah Lena S. Die Offiziersanwärter seien übermüdet und unter Zeitdruck in die Takelage geschickt worden. "Das hätten verantwortungsbewusste Vorgesetzte doch merken müssen", sagt die Mutter. Und: "Ich klage jetzt an."
Auch die Mutter der im September 2008 auf der "Gorch Fock" verunglückten Offiziersanwärterin Jenny Böken kritisiert die Marine. "Sollten die neuen Ermittlungen ergeben, dass auf der ,Gorch Fock' Kadetten unter Druck gesetzt wurden, stellt sich die Frage: Wurden Zeugen von Jennys Unfall eingeschüchtert?", sagte Marlies Böken dem Abendblatt. Die Glaubwürdigkeit der Zeugen sei dann beschädigt. "In diesem Fall würden mein Mann und ich in Absprache mit unserer Anwältin eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen." Jenny Böken war vor Norderney unter ungeklärten Umständen über Bord gegangen.
Welche Zustände herrschen auf der "Gorch Fock"? Unter ehemaligen Besatzungsmitgliedern gehen die Meinungen auseinander. Viele heben die Kameradschaft an Bord und die schönen Erlebnisse auf See hervor - und verstehen die angebliche Meuterei ihrer Nachfolger nicht. Andere prangern Missstände offen an. Ein Ex-Offiziersanwärter berichtete "Welt Online" von einer Stammbesatzung, die "überwiegend respektlos" sei. "Wer sich nicht unterwürfig verhielt, wurde - wie in meinem Fall - gern mit scharfem Ton und Blick in die hohen Masten vermittelt: ,Pass bloß auf, da oben sind wir allein!', hieß es dann drohend. Hier gab es kein Miteinander", sagte der Mann.
Eine Ex-Offiziersanwärterin sagte dem Abendblatt, dass die Zeit an Bord der "Gorch Fock" körperlich anstrengend war. "Uns war klar: Wir waren keine Kuschelgruppe." Sie habe aber nie das Gefühl gehabt, zum Aufentern gezwungen zu werden. Im Gegenteil: "Unsere Ausbilder haben uns gefragt: ,Haben Sie Höhenangst?' Wer zugab, Höhenangst zu haben, musste nicht in die Takelage klettern. Ab einer bestimmten Windstärke durften wir Kadetten dort gar nicht mehr rauf." Als Frau habe sie sich an Bord wohlgefühlt. Obwohl es ab und zu mal sexistische Sprüche gegeben habe. "Das haben wir nicht ernst genommen und albern gefunden", sagte die junge Frau.
Ein ehemaliger Obergefreiter war dabei, als 2002 ein Kamerad vom Mast stürzte und starb. "Die Schiffsleitung hat damals sehr gut reagiert. Wir sind zunächst unter Motor weitergefahren, erst später ging es wieder in die Takelage. Dazu gezwungen wurden wir nicht, gemeutert hätte niemand, und das Leben ging weiter." Dass es auf der "Gorch Fock" zu einer Meuterei gekommen sein soll, könne er nicht nachvollziehen. "Meckern, Schreien, Besserwissen bringt das Schiff keine Kabellänge weit durch die See. Mitziehen und Machen bringt die ,Gorch Fock' seit Jahrzehnten über die Weltmeere", sagte er. Der ehemalige Matrose befürchtet, dass die Bundeswehr die Ausbildung angehender Offiziere auf dem Segelschulschiff einstellt. "Der Verlust für junge Generationen wäre nicht ermesslich."
Natürlich sei der Ton an Bord etwas rauer, sagt Jörn Adams, 29. Er diente von April 2005 bis Dezember 2007 als Stabsgefreiter in der Stammbesatzung der "Gorch Fock". Grund für den Umgangston sei, dass der Einzelne viel Verantwortung habe. "Wenn jemand die falschen Belegnägel löst, stürzt die zwei Tonnen schwere Rah inklusive Segel herunter." Entsprechend angespannt seien die Ausbilder manchmal.
Viele der Kadetten seien zwischen 17 und 19 Jahren alt. "Das geringe Alter ist vielleicht das größte Problem", sagt Adams. Ein neuer Lehrgang werde zwei Wochen im Hafen vorbereitet. Dabei drehe sich sehr viel um Sicherheit. Dann gehe es los auf Fahrt, und nach sechs Wochen verließen die Kadetten das Schiff auch schon wieder.
Er verstehe nicht, dass sich manche Offiziersanwärter sträuben, in die Masten zu klettern, sagt Adams. "Sie sind angehende Offiziere und müssen Vorbilder sein. Aber es gibt auch immer wieder welche, die meinen, sie seien etwas Besseres." Sie müssten lernen, wie es bei der Bundeswehr zugeht: "Es wird ein Befehl erteilt und dann wird er ausgeführt." Reibereien auf See gehörten dazu. "Oft schlafen 20 bis 25 Männer in einem Raum. Die Hängematten, die Toiletten - alles ist eng. Wenn man mehrere Monate an Bord ist, geraten schon einmal Kameraden aneinander." Aber das sei nichts Ernstes. "Man trinkt ein Bier zusammen und es passt wieder."