Kadetten verweigerten Dienst nach Unfalltod einer Kameradin. Von Ausbildern genötigt?
Berlin. Auf dem deutschen Segelschulschiff "Gorch Fock" ist es nach dem tödlichen Sturz einer Offiziersanwärterin aus der Takelage vor gut zwei Monaten offenbar zu einer Meuterei gekommen. Das geht aus einem Brief des Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus (FDP) an den Verteidigungsausschuss und das Bundesverteidigungsministerium hervor. Demnach "wollten unmittelbar nach dem schmerzhaften Verlust der Kameradin viele (Kadetten) nicht mehr aufentern" - also in die Takelage klettern -, "andere wollten nicht mit der 'Gorch Fock' weiterfahren". Vier Offiziersanwärtern sei von der Schiffsführung "Meuterei" vorgeworfen worden, heißt es in dem Brief.
Die Diskussionen an Bord des Schiffes drehten sich auch um die Frage, inwieweit der Unfalltod auf dem Ausbildungsschiff mit dem Tod eines im Einsatz gefallenen Soldaten vergleichbar sei. Den aufbegehrenden Offiziersanwärtern sei "mangelnde Zusammenarbeit mit der Schiffsführung" unterstellt worden. Ausbilder sollen massiven Druck auf die 70 Kadetten ausgeübt haben. Ihnen sei angedroht worden, nicht mehr Offizier werden zu können. Angeblich fielen Sätze wie "wenn Sie nicht (in die Takelage) hochgehen, fliegen Sie morgen nach Hause". In einem Fall sei ein Kadett mit ausgeprägter Höhenangst dazu gebracht worden, auf den höchsten Mast aufzuentern, obwohl er dies nicht wollte. Dies sei von Soldaten als Nötigung empfunden worden, schreibt Königshaus.
Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte dem Abendblatt den Brief des Wehrbeauftragten, in dem es zudem um einen Fall der sexuellen Belästigung eines Soldaten durch Kameraden geht. Die Marine habe eine "vorbehaltlose Aufklärung" zugesagt.
Am 10. Februar wird die "Gorch Fock", die gerade ohne Kadetten Kap Hoorn (Südamerika) umrundet hat, im chilenischen Valparaiso erwartet. Dann soll ein Untersuchungsteam an Bord gehen. Ob es sich bei den Vorfällen tatsächlich juristisch um Befehlsverweigerung handelt, ist noch unklar. Das Aufentern zum Segelsetzen oder -bergen gelte als "grundsätzlich freiwillig", heißt es in Marinekreisen. Doch sei bei einer Weigerung davon auszugehen, dass ein solcher Anwärter kaum noch zum Offizier geeignet sei.
Am 7. November war die 25 Jahre alte Offiziersanwärterin Sarah Lena S. aus Holzminden während eines Aufenthalts im brasilianischen Hafen Salvador da Bahia bei einer Übung aus der Takelage auf das Deck gestürzt. Sie starb wenig später in einer Klinik. Die Ausbildung auf der "Gorch Fock" wurde danach vorübergehend ausgesetzt. Das 1958 bei Blohm + Voss in Hamburg gebaute Schiff segelte nur mit seiner Stammbesatzung weiter. Das Ausbildungskonzept müsse jetzt überprüft werden, hieß es seinerzeit.
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Ulrich Kirsch, sagte dem Abendblatt: "Diejenigen, die ein Fehlverhalten an den Tag gelegt haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden." Er verteidigte aber das Ausbildungskonzept auf dem Segelschulschiff: "Es gibt keine bessere Ausbildung als auf einem Schiff, wenn es um den Crew-Gedanken geht." Der Absturz der Kadettin war der siebte tödliche Unfall auf der "Gorch Fock". Seit 1958 wurden auf dem Dreimaster mehr als 14 500 Offiziersanwärter ausgebildet.