Bei der Festsetzung der Regelsätze tut sich die Regierung schwer. Eine deutliche Anhebung könnte eine Kettenreaktion auslösen.

Berlin. Im Berliner Problemstadtteil Neukölln demonstriert ein Wirt schon seit Jahren Mitleid mit den Langzeitarbeitslosen. „Hier gibt's Bier für Hartz-IV: 1 Euro“ prangt auf einem vergilbten Schild in seinem Kneipenfenster. Doch auch diesen Euro fürs Bier will ein Teil der Koalition nicht mehr bei der Berechnung von Hartz-IV vorsehen. Ein Zuschuss von 7,52 Euro für Bier, Wein und Schnaps und 11,58 Euro für Tabak sind in dem bisherigen monatlichen Unterstützungsregelsatz von insgesamt 359 Euro Euro enthalten – eine Summe, mit der man selbst bei noch so günstigen Offerten wahrlich keine Gelage feiern kann. Doch: „Alkohol und Tabak sind keine Lebensmittel, die ein Mensch wirklich braucht. Deshalb kann und darf es nicht sein, dass die Allgemeinheit für Sucht- und Genussmittel der Hartz-IV-Empfänger aufkommen soll,“ zitiert die „Bild“-Zeitung (Freitag) den Dresdner CDU-Abgeordneten Andreas Lämmel.

Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Länder- Regierungschefs der Union waren sich nach dpa-Informationen bei einem Kamingespräch am Vorabend der Bundesratssitzung einig, dass die Genussmittel künftig aus der Berechnung des neuen Hartz-IV- Regelsatzes verschwinden sollen. Fazit des Gesprächs: Die Gesamterhöhung der neuen Hartz-IV-Sätze soll deutlich unter 20 Euro liegen . Am Sonntag soll dies bei der Koalitionsrunde, die an diesem Sonntag in Berlin zusammenkommt , festgelegt werden – bevor Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Montag den kompletten Gesetzentwurf mit den neuen Regelsätzen vorstellt.

Dabei geht es nur vordergründig um die 20 Euro für Genussmittel aus dem bisherigen Regelsatz, die bei einer Neuberechnung zur Kompensation von Kostensteigerungen in anderen Ausgabenfeldern herangezogen werden könnten. Vor allem den Wirtschaftspolitikern der Union und auch der FDP passt die gesamte Linie nicht, die die Arbeitsministerin bei der vom Verfassungsgericht verlangten transparenteren Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze verfolgt. So will von der Leyen künftig einen Mix heranziehen, der sich zu 70 Prozent am Preisniveau und zu 30 Prozent an der Lohnentwicklung orientiert. Bisher folgten die Hartz-IV-Sätze den Rentenerhöhungen - und die fielen in den vergangenen Jahren wahrlich mager aus. Doch eine Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene nur um 10 Euro pro Monat würde mit 700 bis 800 Millionen Euro Mehrkosten pro Jahr zu Buche schlagen.

EXPERTEN WARNEN VOR TRICKSEREIEN

Die vom Verfassungsgericht verlangte Berücksichtigung der Bildungskosten für die Kinder von Langzeitarbeitslosen, für die der Bund bereits vorsorglich 480 Millionen Euro auf einem Sonderkonto geparkt hat, sind dabei noch nicht einbezogen. Haushaltspolitiker der Koalition drohen von der Leyen bereits offen, dass sie jeden Euro, den sie für die Hartz-IV-Regelsätze mehr aufbringen muss, an anderer Stelle im Etat des Arbeitsministerium einsparen muss. Also eine Hartz-IV-Erhöhung zu Lasten arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen? Doch dabei geht es letztlich nicht nur um die Mehrkosten für die Erhöhung von Hartz-IV – sondern langfristig um sehr viel mehr.

Haushaltspolitiker befürchten eine Kettenreaktion: Denn erhöht der Staat das lebensnotwendige Existenzminimum, das er den Ärmsten der Armen gibt, dann führt mittelfristig auch an einer Erhöhung des steuerfreien Existenzminiums bei Verdienenden einschließlich Kinderfreibeträge kein Weg vorbei. Politisch unausweichlich wäre dann auch die Kindergelderhöhung für alle. Das würde das Streben nach Haushaltskonsolidierung konterkarieren – und auch den letzten Steuersenkungsträumen der Koalition den Garaus bescheren.

Und noch aus einem anderen Grund laufen der Wirtschaftsflügel der Union und die FDP gemeinsam gegen einen höheren Regelsatz Sturm. Steigt er mehr als marginal, gerät das Lohnabstandsniveau ins Wanken, nachdem jemand der arbeitet, mehr bekommen soll als jemand ohne Beschäftigung. Die Folge wäre eine entsprechende Anhebung des Mindesteinkommens. In der Union wird schon offen vor einer „Einführung des Mindestlohns durch die Hintertür“ gewarnt. Bei dem Tauziehen um die unausweichliche Neuregelung von Hartz-IV sitzt von der Leyen derweil zwischen allen Stühlen. Schließlich muss das neue Gesetz auch noch den Bundesrat passieren, in dem Schwarz- Gelb keine Mehrheit mehr hat. Und eine neue Verfassungsklage der Sozialverbände ist auch nicht auszuschließen.