Der Arbeitgeberpräsident im Abendblatt-Interview über den Wirtschaftsboom, den Fachkräftemangel und die Zukunft der Atomkraft.
Hamburg. Er ist die Stimme der deutschen Wirtschaft: Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warnt vor falschen Konsequenzen aus dem rasanten Aufschwung. Alles, was Unternehmen belaste, müsse unterlassen werden.
Hamburger Abendblatt:
Herr Hundt, glauben Sie an das Jobwunder, von dem jetzt alle sprechen?
Dieter Hundt:
Der Arbeitsmarkt hat sich über die gesamte Krise hinweg außerordentlich robust verhalten. Die positive Entwicklung setzt sich erfreulicherweise in diesem Jahr fort. Ich bin sehr optimistisch, dass die Arbeitslosigkeit im Herbst die Drei-Millionen-Grenze unterschreitet.
Welches Wachstum erwarten Sie?
Wir erleben einen überraschend starken Aufschwung, es boomt in vielen Branchen. Wir werden beim Wirtschaftswachstum wahrscheinlich eine Zwei vor dem Komma erreichen. Sogar 2,5 Prozent sind in diesem Jahr möglich.
Was bedeutet das für den Lehrstellenmarkt?
Die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt sind so gut wie seit über zehn Jahren nicht mehr. Wir haben derzeit immer noch mehr als 100 000 freie Ausbildungsplätze. Viele Betriebe beklagen, dass sie ihre Lehrstellen nicht mit ausreichend ausbildungsreifen jungen Menschen besetzen können.
Was empfehlen Sie?
Ich appelliere an die jungen Männer und Frauen, nicht nur ihren Traumberuf im Auge zu haben, sondern sich auch für eine Ausbildung in anderen Bereichen zu interessieren. Vor allem naturwissenschaftlich-technische Berufe bieten sehr gute Zukunftsperspektiven. Auch geografisch müssen die jungen Menschen flexibel sein. Für einen guten Ausbildungsplatz kann auch ein Umzug akzeptiert werden.
Steigen jetzt auch die Löhne?
Wir haben eine erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung. Aber es wird noch bis zum nächsten oder übernächsten Jahr dauern, bis die deutsche Wirtschaft das Niveau vor der Krise wieder erreicht hat.
Soll heißen?
Ich warne vor einer Diskussion über Lohnerhöhungen zur Unzeit. In wichtigen Branchen laufen die aktuellen Tarifverträge zum Teil bis 2011 und sogar bis 2012. Im Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie, der bis Ende März 2012 läuft, ist die Anhebung der Entgelte im April nächsten Jahres um 2,7 Prozent bereits vereinbart. Im Moment muss alles verhindert werden, was den Aufschwung bremst. Es dürfen keine zusätzlichen Kosten auf die Unternehmen zukommen - weder durch höhere Steuern und Abgaben noch durch unangemessene Lohnerhöhungen.
Jeder vierte Deutsche, das hat jetzt ein Marktforschungsinstitut ermittelt, nutzt nicht alle seine Urlaubstage. Vorbildlich?
Mich erstaunt diese Zahl etwas. Im gewerblichen Bereich nutzen die Beschäftigten ihren Urlaubsanspruch in aller Regel aus. Wenn sich ein Mitarbeiter für sein Unternehmen engagiert, indem er bei der Inanspruchnahme des Urlaubs auf betriebliche Erfordernisse Rücksicht nimmt, dokumentiert er Verantwortungsbewusstsein und Loyalität zum Unternehmen.
Haben die Deutschen zu viel Urlaub?
Deutschland hat im internationalen Vergleich mit die kürzesten Arbeitszeiten. Allerdings haben wir bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Das hat uns in der Krise sehr geholfen, Beschäftigung zu sichern. Im Aufschwung können wir die Arbeitnehmer wieder länger beschäftigen. Diesen Weg der flexiblen Arbeitszeiten müssen wir jetzt weitergehen.
Qualifizierte Fachkräfte fehlen. Wie ist in den Unternehmen der Vorstoß von Wirtschaftsminister Brüderle aufgenommen worden, eine Lockprämie für ausländische Arbeitskräfte zu zahlen?
Es muss dem einzelnen Unternehmen freigestellt sein, ob es mit attraktiven Angeboten und Anreizen qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland anwirbt. Eine staatlich koordinierte Lockprämie halte ich nicht für sinnvoll.
Wie kann der Fachkräftemangel behoben werden?
Wir müssen unser Arbeitskräftepotenzial deutlich besser erschließen und mehr Frauen, mehr Ältere und mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsprozess integrieren. Darüber hinaus ist eine gesteuerte Zuwanderung unumgänglich. Ich denke da vor allem an die Einführung eines Punktesystems, das Qualifikation und Bedarf berücksichtigt.
Vor der Bundestagswahl wurden die wirtschaftlichen Ressorts von Guttenberg, Steinbrück und Scholz besetzt. Jetzt sind es Brüderle, Schäuble und von der Leyen. Welches Trio überzeugt Sie mehr?
Ich will keinen Mannschaftsvergleich vornehmen. Die Große Koalition hat zu Beginn der Krise richtige Maßnahmen ergriffen. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, die Konjunkturprogramme mit der Abwrackprämie und nicht zuletzt die Erleichterung der Kurzarbeit haben die Auswirkungen der Krise begrenzt. Die jetzige Regierung hat diese Politik erfolgreich fortgesetzt, und sie leitet zum richtigen Zeitpunkt die notwendige Konsolidierung des Bundeshaushalts ein.
Schwarz-Gelb streitet - besonders intensiv über die geplante Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke. Lässt sich ein Ausstieg aus dem Atomausstieg überhaupt durchsetzen?
Die Energieversorgung muss sicher, wirtschaftlich und umweltfreundlich sein. Es ist volkswirtschaftlich und umweltpolitisch nicht zu verantworten, sichere und wirtschaftliche Kernkraftwerke aus ideologischen Gründen abzuschalten.
Atomkraftwerke sollen unbegrenzt am Netz bleiben?
Als Ingenieur plädiere ich dafür, Kernkraftwerke so lange am Netz zu lassen, wie sie sicher und wirtschaftlich sind.
Würden Sie für die Sicherheit älterer Reaktoren wie Krümmel in Schleswig-Holstein bürgen?
Ich kann Ihnen verraten, dass ich von 1964 bis 1975 in der Kernenergiebranche gearbeitet habe. Ich bin davon überzeugt, dass deutsche Kraftwerke im internationalen Vergleich den höchsten Sicherheitsstandard aufweisen. Ich vertraue darauf, dass die Kernkraftwerke in Deutschland sicher sind.
In anderen europäischen Staaten werden neue Reaktoren gebaut. Ist das in Deutschland ausgeschlossen?
Bedauerlich ist, dass diese Diskussion in Deutschland ideologisch getrieben ist. Es ist versorgungspolitisch bedenklich, dass wir Strom aus Kernenergie in einem zunehmenden Ausmaß aus Nachbarländern beziehen.
Die deutsche Politik sollte ihr Nein zu neuen Kernkraftwerken also überdenken?
Die Politik denkt gerade über ein neues Energiekonzept nach. Dabei geht es um längere Laufzeiten für bestehende Kernkraftwerke. Neubaupläne in Deutschland sind mir - im Unterschied zu vielen anderen Ländern - nicht bekannt.
Welche Sparte bietet eigentlich größere Jobchancen - die Kernkraft oder erneuerbare Energien?
Beide bieten enorme Jobchancen. Wir müssen die erneuerbaren Energien mit allem Nachdruck weiterentwickeln. Ich halte aber die meisten Prognosen, wann und in welchem Umfang regenerative Energien die Stromversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen übernehmen können, für zu optimistisch und technisch fragwürdig.