Kanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle zu deutsch-russischen Regierungskonsultationen bei Präsident Medwedew in Jekaterinburg.
Jekaterinburg. Es war Sergej Lawrow, der Atmosphäre und Motto der deutsch-russischen Regierungskonsultationen vorgab. Der russische Außenminister empfing seinen deutschen Kollegen Guido Westerwelle vor Beginn der offiziellen Gespräche auf einem Reiterhof vor den Toren Jekaterinburgs. Nach der Anfahrt über holprige Fernstraßen und einem Rundgang durch die Stallungen, bei dem der Gast ausgewählte Rösser mit den bezeichnenden Namen "Sorglos" und "Balsam" mit Mohrrüben füttern durfte, brachte Lawrow beim Abendessen nach dem zweiten Wodka einen Trinkspruch aus: "To the resolution of all conflicts" (auf die Lösung aller Konflikte).
Damit ist der aktuelle Stand der bilateralen Beziehungen gut beschrieben.
Es gibt noch Probleme, manchmal rumpelt es auch, aber beide Seiten sind guten Willens, die unterschiedlichen Interessen partnerschaftlich in Einklang zu bringen. Bundeskanzlerin Angela Merkel , die in Begleitung von sechs Ministern und einer Delegation von Wirtschaftsvertretern kurz nach Westerwelle in Jekaterinburg eintraf, nannte das bilaterale Verhältnis deshalb "sehr, sehr gut" und intensiv.
Dazu haben beide Seiten beigetragen. Der russische Präsident Dmitri Medwedew tritt in der Außenpolitik konzilianter auf als sein Vorgänger Wladimir Putin. Das spiegelt sich in Russlands neuer Flexibilität in Abrüstungsfragen ebenso wider wie in seiner Kooperationsbereitschaft im Uno-Sicherheitsrat, wo es Sanktionen gegen den Iran und sein Atomprogramm unterstützte. Und auch die Regierung Merkel/Westerwelle verfolgt einen "kooperativen Ansatz" der Zusammenarbeit, wobei sich das eher auf die Abstimmung mit anderen Europäern bezieht. "Wir machen keine Russland-Politik über die Köpfe von irgendjemandem hinweg", sagte Westerwelle. "Mir ist wichtig, dass alle in Europa, insbesondere auch die neuen EU-Mitgliedstaaten mit ihren eigenen historischen Erfahrungen, unsere Initiativen mittragen" - das war als Anspielung auf die rustikale Männerfreundschaft des Ex-Kanzlers Schröder mit Putin gemeint, deren Ergebnisse die Interessen von Ländern wie Polen oder den Staaten des Baltikums nicht immer berücksichtigten.
Westerwelle hingegen hat Gesprächsformate wie die deutsch-russisch-polnischen Konsultationen etabliert und andere Foren wie das Weimarer Dreieck aus Deutschland, Polen und Frankreich für die Russen geöffnet. Bilateral lässt sich darauf nun aufbauen, insbesondere bei der Wirtschaftszusammenarbeit. Darum vor allem ging es bei den zwölften Regierungskonsultationen in Jekaterinburg. Am Rande der Gespräche der deutschen Minister mit ihren russischen Kollegen unterzeichneten Wirtschaftsvertreter erste milliardenschwere Vertragsabschlüsse. So besiegelte der Siemens-Konzern den Verkauf von mehr als 200 Regionalzügen im Wert von 2,2 Milliarden Euro und weitere Kooperationsabkommen. Beschlossen wurde, diesen Auftakt der "Modernisierungspartnerschaft" auf Projekte bei Forschung, Bildung, Gesundheit und Kultur auszubauen.
Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit einem wirtschaftlich zunehmend diversifizierten Russland gingen weit über die Lieferung von Rohstoffen wie Öl und Gas hinaus, sagte Merkel. Medwedew warb um Investitionen in Hochtechnologie und Infrastruktur; Westerwelle wird im September erneut nach Russland reisen, um konkrete Vorhaben voranzutreiben.
Weniger zufrieden äußerten sich Teilnehmer des parallel zu den Regierungskonsultationen stattfindenden Petersburgers Dialogs, einem zivilgesellschaftlichen Gesprächsforum. Im zehnten Jahr dieses Formats sei man bei Menschenrechts- und Rechtsstaatsfragen noch nicht wesentlich weitergekommen, hieß es von Bundestagsabgeordneten, die ebenfalls mit nach Jekaterinburg gereist waren.
So wies Marieluise Beck, Abgeordnete der Grünen, darauf hin, dass bei der Aufklärung des Mordes an Natalia Estemirowa bislang nichts ermittelt worden sei. Die russische Menschenrechtsaktivistin wurde vor einem Jahr in der Nähe ihrer Wohnung in Grosny entführt und später tot aufgefunden. Beck forderte, "menschenrechtlich kritische Arbeit" müsse auch in Russland möglich sein.
Mit Blick auf ein geplantes Gesetz zur Ausweitung der Befugnisse des russischen Sicherheitsdienstes FSB äußerten deutsche Regierungsvertreter die Sorge vor einem Rückschlag für die Rechtsstaatlichkeit in Russland. Insbesondere dieses Vorhaben zeige, so hieß es bei Diplomaten, dass man bei aller Wertschätzung für Präsident Medwedew nicht ausblenden dürfe, dass dessen Vorgänger, der jetzige Ministerpräsident Putin, innenpolitisch weiterhin die Richtung bestimme. Medewedew sagte, das Gesetz sei eine "innere Angelegenheit". Die Staatsduma will das umstrittene Dekret heute beschließen. Russlands Bürger müssen demnach damit rechnen, vom Geheimdienst direkt zu Gesprächen vorgeladen zu werden.
Sowohl Merkel als auch Westerwelle sprachen bei ihren Treffen die Menschenrechtsfragen an. Mit Bezug auf den Fall Estemirowa sagte die Kanzlerin: "Man muss denen Mut machen, die aufklären wollen." Laut Delegationsangaben ging Westerwelle auf den Fall des inhaftierten russischen Geschäftsmannes Chodorkowski ebenso "offen und kontrovers" ein wie auf das jüngste Gerichtsurteil gegen die Initiatoren der Ausstellung "Verbotene Kunst", die ihren Mut zur Kunstfreiheit mit Geldstrafen büßen mussten. Erleichtert werden derart kontroverse Debatten durch die mittlerweile "tiefe und sehr freundschaftliche Beziehung" (Merkel) zwischen den Regierungschefs, die Vier-Augen-Gespräche "bis 1.30 Uhr morgens" (Medwedew) möglich machen.
Deutschlands Russland-Politik sei strategisch angelegt und umfassend, fasste Westerwelle zusammen. Sie kümmere sich um die Wirtschaftsbeziehungen, aber lasse auch sonst "keine blinden Flecke". Den Spagat zwischen Wirtschaftsförderung und Menschenrechten, zwischen Geschäftsabschlüssen und Stärkung der Zivilgesellschaft müssen Merkel und Westerwelle auch in den nächsten Tagen bewältigen: die Kanzlerin reiste gestern weiter nach China, der Außenminister nach Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan.