Während sich Angela Merkel in den ersten 100 Tagen der schwarz-gelben Koalition gewohnt pragmatisch gibt, sucht die CDU nach einem Profil.
Hamburg. Als der Merkel-Biograf Gerd Langguth um eine 100-Tage-Bilanz der Regierung gebeten wurde, schrieb er: Man könne in den ersten Tagen der Koalition fast den Eindruck gewinnen, aus einer Vernunftehe habe sich eine Liebesheirat entwickelt. Langguth ergänzte noch, dass es zum "Phänomen Merkel" gehöre, dass sie nach dem desaströsen Wahlergebnis doch noch regieren dürfe. Zum gleichen Thema befragt, sagte Bundespräsident Horst Köhler: "Es scheint mir, dass ein neuer Stil politischer Zusammenarbeit existiert: Im Vordergrund steht die Suche nach dem Verbindenden und einer vernünftigen Lösung."
Beide Aussagen sind vier Jahre alt. Sie galten der Großen Koalition, jenem Zweckbündnis, das ohne Vorgaben und Ziele gestartet worden war. Und sie galten einer Angela Merkel, die damals mit 35,2 Prozent weit an der ersehnten Schwarz-Gelb-Regierung vorbeigesegelt war und sich in die Allianz mit der SPD gerettet hatte. Eine neue politische Seinsweise schien sich anzubahnen. Schnell waren sich Politiker und Kommentatoren einig, dass dieser neue Stil allein eine Urheberin hat: die Kanzlerin selbst. So präsidial, so klug moderierend, so bescheiden nach außen, aber gleichzeitig führungsstark nach innen - in Merkel wollten die Deutschen vor vier Jahren noch die Symbolfigur politischer Hochkultur erkennen. Mittlerweile hat sich die Euphorie über die Kanzlerin gelegt. Manches, was vor vier Jahren gelobt wurde, stellt man heute infrage.
Präsidial und moderierend zu sein galt nach 2005 gegenüber einer fast gleichstarken SPD noch als strategische Klugheit. Jetzt, nach 100 Tagen im Bündnis mit den Liberalen, weiß man, dass Merkel gar nicht anders kann und will, als zu moderieren. Ihr abwartender Stil wirkt inzwischen irritierend.
Ende Oktober hatte die Kanzlerin für kurze Zeit einen anderen Eindruck erweckt. Große Reformen wollte sie mit der FDP zusammen anpacken. Investitionen in Bildung und Forschung, Entlastung von Bürgern und Unternehmen, Konsolidierung der Haushalte, Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts - das waren die Eckpunkte des Regierungsprogramms. Doch bis jetzt hat sich vor allem der Eindruck verfestigt, dass es die Koalition in erster Linie mit den Hoteliers gut meint.
Und Merkels Ziele? Auf den Versuch von FDP-Chef Guido Westerwelle, mit dem Regierungsbündnis eine "geistig-politische Wende" zu verbinden, ging die Kanzlerin nicht mit einem Satz ein. Das "Phänomen Merkel" will sich nicht auf ideologische Grundpfeiler festlegen lassen. Merkel möchte einfach nur regieren - ohne überhöhten moralischen oder emotionalen Firlefanz. Sie denkt von einer Aufgabe zur nächsten, von Problemlösung zu Problemlösung.
Unter ihrem Pragmatismus leidet die Partei, die immer mehr um ihr Profil kämpft. Nur Merkel selbst scheint das nicht zu berühren. Als das Wahlergebnis im vergangenen Herbst die Schlappe von 2005 noch um weitere 1,4 Prozentpunkte unterbot, ärgerte sich Merkel von allen CDU-Mitgliedern vielleicht am wenigsten darüber. Die Versuche mancher Parteifreunde, Merkel anzugreifen, laufen immer wieder ins Leere. In der Partei heißt es, solange Merkel der CDU die Macht erhält, bleibt sie unangefochten. Ihr rationales, wenig herzliches Verhältnis zur Partei nehmen die CDU-Anhänger wie ein notwendiges Übel in Kauf. Genauso wie Merkels Wunsch, die Partei noch weiter als bisher für sozialdemokratische und grüne Wählerschichten zu öffnen. Merkel kommt damit ihrem persönlichen Programm näher: "Kanzlerin aller Deutschen" zu sein. So formulierte sie es am Wahlabend. Vermutlich ist es Merkel auch ziemlich gleich, ob sie die SPD oder die FDP an ihrer Seite hat. Was am Ende zählt, ist ihr persönliches Weiterregieren.
Von einer programmatischen Wende wollte Merkel nichts wissen, als sie Ende Oktober ihre vermeintliche politische Wunsch-Ehe mit der FDP einging. Die Liberalen haben spätestens jetzt gemerkt, dass ihre Kanzlerin keine andere ist als die Kanzlerin von Schwarz-Rot. Weil sie sich in den vergangenen 100 Tagen nicht veränderte und gern auch schwieg, wenn die FDP ein "Basta" von ihr hören wollte, etwa in Richtung CSU bei der Gesundheitspolitik, wirken die ersten Regierungsmonate wie eine Zeit der gegenseitigen Entfremdung. Es war ein schleichender Prozess und in den schnell durchgezogenen Koalitionsverhandlungen noch nicht sichtbar. Zum Koalitionsstart Ende Oktober aber umso mehr.
Westerwelle als neuer Außenminister reiste zuerst nach Polen und brachte zu Hause die CDU gegen sich auf, als er in Warschau seine Abneigung gegen die Berufung der Vertriebenen-Präsidentin und CDU-Politikerin Erika Steinbach in den Rat der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" kundtat. Bis heute ist der Streit nicht beigelegt. Im November zeigte sich dann, dass Union und FDP erstaunlich große Meinungsverschiedenheiten in der Haushaltspolitik haben. Der Dissens übertrug sich auf die Bundesländer, in denen nun auch CDU-geführte Regierungen mit einem Veto drohten gegen das Wachstumsbeschleunigungsgesetz und die damit verbundenen Steuerausfälle. Merkel lud den Wortführer der aufmüpfigen Länderfürsten, Schleswig-Holsteins Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen, nach Berlin zum klärenden Gespräch ein. Sie machte ihm Zugeständnisse bei der Lastenverteilung, etwa bei den Bildungskosten, und er stimmte zähneknirschend zu. Merkels erkaufter Konsens gab ihr wenigstens über Weihnachten einige Wochen Ruhe.
Sie weiß ohnehin, dass die wahren Probleme noch kommen werden: Bis heute haben die Regierungsparteien kein Einvernehmen darüber gefunden, inwieweit und wann tatsächlich Steuerentlastungen und eine Steuerstrukturreform in Angriff genommen werden. Weil schon der Koalitionsvertrag darüber keine genaue Auskunft gibt, müht sich Merkel erst gar nicht, selbst Klarheit zu schaffen. Sie stehe zu dem Beschlossenen, ist so ein Satz, den sie immer dann in den Mund nimmt, wenn koalitionsinterner Streit auf ein Machtwort der Kanzlerin zuläuft. Zuletzt sagte Merkel diesen Satz, als die schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen forderte, die erst vier Wochen alte Mehrwertsteuersenkung für Hotelbetriebe auszusetzen. Zu dem Beschlossenen zu stehen ist im merkelschen Vokabular die höchste Form eines Machtworts.
So oft scheint Merkel nicht greifbar. Und als die Ungreifbare macht sie sich unangreifbar. Sie nimmt keinen Schaden, wenn FDP und Union mit Ausdauer einander kritisieren. Merkel ist so beliebt wie eh und je. Und Streitereien in der Koalition legt man ihr nicht unmittelbar als Führungsschwäche aus. Sie darf schweigen. Merkel wird abgenommen, dass sie grundsätzlich über den Dingen steht.
Sollte bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai die schwarz-gelbe Mehrheit kippen, ist auch die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit verloren. Merkel müsste dann SPD und Grüne mitreden lassen und in eine gefühlte Große Koalition gehen. Ihrem Führungsstil käme das entgegen.
Im Januar erprobte Merkel die großkoalitionäre Strategie bereits mit Erfolg: Weil sie unbedingt eine Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition in der Afghanistan-Frage vermeiden wollte, bat sie SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier früh zu einem Sondierungsgespräch. Wenn Deutschland weitere Soldaten nach Afghanistan schickt, dann sollten nicht nur die Regierungsfraktionen dahinterstehen, so das Kalkül. Die SPD signalisierte Zustimmung, und Merkel konnte sich im Bundestag einmal mehr wie eine überparteiliche Präsidialkanzlerin fühlen. Im Plenum lobte SPD-Chef Sigmar Gabriel ausdrücklich Teile der neuen Afghanistan-Strategie: "Frau Bundeskanzlerin, wir wollen Sie dabei unterstützen."
Wenn es doch einmal eines schnellen Jas oder Neins bedarf wie jüngst bei der Frage, ob die Bundesregierung geklaute Bankdaten kaufen soll, um deutsche Steuerbetrüger zu entlarven, dann schaltet Merkel ihr Sensorium für die Gefühlslage der Nation ein: Als am Montag 57 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage des "Sterns" dafür waren, die Daten zu kaufen und unter den Unionsanhängern mit 54 Prozent fast ebenso viele das Geschäft wollten, konnte die Kanzlerin guten Gewissens grünes Licht für den Kauf der umstrittenen Daten geben. Sie wusste, dieses Ja wird ihr nicht schaden.
Die Gunst der Öffentlichkeit für sich zu erhalten macht auch das von Langguth beschriebene "Phänomen" aus. Bei Auftritten, in denen es nicht vordergründig um Politik geht, blüht Merkel regelrecht auf und offenbart ihre bewährte Melange aus Charme und Schlagfertigkeit. Ganz gleich, wo sie zu Gast ist, stets gibt sie allen Beteiligten das Gefühl, in diesem Moment nirgendwo sonst lieber sein zu wollen als gerade an diesem Ort und mit diesen Menschen.
Sie kann sich sogar im Karneval, einer ihr doch sichtbar wesensfremden Kultur, auf diese Gabe verlassen. Als Merkel beim Karnevalistenempfang am Dienstag im Kanzleramt zwischen all den Narrenkappen, Prinzenpaaren und Funkenmariechen stand, wollte sie natürlich noch ein paar freundliche Worte sagen. Es sei ja noch ein bisschen hin bis zum Ende des Karnevals, und die Narren hätten noch Zeit, sich für die Karnevalsumzüge Gedanken zu machen, sagte sie. "Ich vermute, die Bundesregierung bietet noch ein paar Anregungen", schloss sie ihre kleine Rede. Die Karnevalisten lachten. Und Merkel freute sich über ihren Scherz. Als ob die Regierung, über die sie sich erheiterte, gar nicht ihre eigene sei.