Vor 30 Jahren wurden die Grünen gegründet. Ihr Parteichef spricht über alte und neue Anarchisten.

Berlin. Hamburger Abendblatt:

Die Grünen feiern an diesem Sonntag ihren 30. Geburtstag. Über welches Geschenk würden Sie sich am meisten freuen, Herr Özdemir?

Cem Özdemir:

Über die Regierungsbeteiligung der Grünen nach der nächsten Bundestagswahl. Es tut der Republik gut, wenn grüne Politik wieder im Original stattfindet. Schwarz-Gelb hat gerade erst Platz genommen auf der Regierungsbank und zeigt schon Ermüdungserscheinungen.

Abendblatt:

Sind die Grünen noch eine junge Partei?

Özdemir:

Wir sind natürlich alle ein bisschen älter geworden, Erfahrung schadet ja auch nicht, wenn sie immer wieder mit frischen, neuen Ideen und Konzepten verbunden wird. Entscheidend ist, wie man Politik macht.

Abendblatt:

In der Führungsspitze gehen die meisten auf 60 zu. Fehlt Ihrem Nachwuchs der Biss?

Özdemir:

Sie übertreiben. Robert Habeck in Schleswig-Holstein, Antje Hermenau in Sachsen oder Tarek al-Wazir in Hessen - ich sehe allenthalben junge Leute, die nach vorne drängen. Von ihnen wird man in den nächsten Jahren sicherlich noch einiges hören.

Abendblatt:

Sind die Grünen eine linke Partei geblieben?

Özdemir:

Der Wertekanon der Grünen ist breit gefächert. Wenn sie es gerne im Rechts-links-Schema hätten, dann sind wir linke Mitte.

Abendblatt:

Gründungsmitglied Ströbele beklagt, die Partei sei inzwischen "zu etabliert" ...

Özdemir:

Ich müsste mir Sorgen machen um meine Partei, wenn Hans-Christian Ströbele etwas anderes sagen würde. Er passt sehr gut zu Berlin-Kreuzberg und repräsentiert einen wichtigen Teil der Partei. Wir haben uns einen festen Platz im Parteiensystem erkämpft, das freut mich. Jetzt geht es darum, dass Grün weiter wächst.

Abendblatt:

Ströbele vermisst alternative Protestformen ...

Özdemir:

Was sollen wir jetzt machen? Sollen wir uns vor dem Reichstag anketten? Sollen wir uns ausziehen? Aber keine Sorge: Nach der Landtagswahl in NRW wird die schwarz-gelbe Koalition ihre eigentlichen Horrorpläne vorstellen. Dagegen werden die Grünen nicht nur im Parlament kämpfen. Man wird uns häufiger auf der Straße sehen. Hans-Christian Ströbele ist jedes Mal strahlend dabei, wenn wir eine Demo organisieren.

Abendblatt:

Was planen Sie?

Özdemir:

Wir werden demonstrieren gegen die ausufernde Staatsverschuldung und Steuersenkungen für Besserverdienende, gegen Atomkraftwerke, gegen neue Kohlekraftwerke. Wir werden alle unsere Rechte und Möglichkeiten nutzen, um zu verhindern, dass wichtige Fortschritte kaputt gemacht werden. Wenn Union und FDP die Laufzeiten von Atomreaktoren verlängern, bekommen sie richtig Ärger.

Abendblatt:

Sind die Grünen eine bürgerliche Partei?

Özdemir:

Wenn bürgerlich heißt, dass man die Staatsfinanzen nicht ruiniert, anständige Schulen für alle Kinder bereitstellt und ökologischen Landbau fördert, dann sind die Grünen eine Partei, der bürgerliche Werte im besten Sinne wichtig sind.

Abendblatt:

Wie würde unser Land aussehen ohne die Grünen?

Özdemir:

Die Ökologie und andere zentrale Themen wären viel später auf die Tagesordnung gekommen. Wir wären nicht weltweit Vorreiter bei den erneuerbaren Energien und vielen Umweltschutztechniken. Auch einen CDU-Umweltminister, der so redet wie Norbert Röttgen, würde es ohne uns nicht geben. Seit dem Ende von Rot-Grün sind wir in einer Phase, in der sich alle grün anstreichen wollen.

Abendblatt:

Wie wichtig ist es für die Grünen zu regieren?

Özdemir:

Wenn man sieht, wer da gerade regiert und was die machen, dann denkt man schon: Wir können es besser und müssen so schnell wie möglich wieder ran! Die FDP ist völlig unvorbereitet an die Macht gekommen, ihre Schuldenpolitik ist eine Gefahr für die Republik. Fast könnte man meinen, die Liberalen seien die neuen Anarchisten, die sich vorgenommen haben, auf besonders raffinierte Weise den Staat zu zerschlagen. Das übertrifft sogar die kühnsten Pläne unserer Spontis.

Abendblatt:

Was ergibt sich daraus?

Özdemir:

Diese Koalition tut alles dafür, dass es zu ihrem vorzeitigen Ende kommt. Schwarz-Gelb wird uns das Land vielleicht schon vor 2013 in einem katastrophalen Zustand hinterlassen. Die Grünen müssen sich jetzt darauf vorbereiten, die Regierung zu übernehmen. Das wird alles andere als ein Spaziergang. Wir werden vollständig ruinierte Staatsfinanzen vorfinden, aber riesigen Erwartungen ausgesetzt sein. Wir werden sparen und neue Prioritäten setzen müssen, etwa beim Klimaschutz.

Abendblatt:

In Hamburg regieren Sie mit der CDU, im Saarland mit CDU und FDP ...

Özdemir:

... auf die FDP hätte ich gerne verzichtet.

Abendblatt:

Ist Schwarz-Grün inzwischen Normalität?

Özdemir:

Schwarz-Grün ist mancherorts eine der möglichen Optionen. Voraussetzung ist, dass man es mit einem Partner zu tun hat, der bereit ist, sich auf ein progressives Regierungsprogramm einzulassen.

Abendblatt:

Wäre die Union im Bund ein solcher Partner?

Özdemir:

Es wäre verfrüht, über Koalitionsmöglichkeiten für 2013 zu diskutieren. Je stärker wir sind, desto mehr Optionen haben wir. Unser Ziel muss sein, weiter zu wachsen. Mit den guten 10,7 Prozent bei der Bundestagswahl sind wir längst nicht am Ende der Fahnenstange.

Abendblatt:

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen CDU und Grünen beschreiben?

Özdemir:

Wir sind politische Konkurrenten, aber auf der persönlichen Ebene gibt es gute Kontakte. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe kommt am Sonntag zu unserer 30-Jahr-Feier. Gelegentlich treffen sich Politiker von CDU und Grünen auch in Berliner Lokalen.

Abendblatt:

... und lassen sich gemeinsam über die FDP aus?

Özdemir:

Ich will jetzt nicht zu viel verraten, aber der FDP-Freundeskreis in der Union ist kleiner, als man denkt.

Abendblatt:

In Hamburg ist Schwarz-Grün ins Straucheln geraten. Das zentrale Projekt, die Schulreform, wird von den Bürgern torpediert. Was empfehlen Sie Ihren Parteifreunden?

Özdemir:

Mein Eindruck ist, dass Ole von Beusts CDU und die GAL sehr gut zusammenstehen. Es ist ja auch ein kleinerer Teil der Menschen in Hamburg, der die Schulreform ablehnt. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird in der Welt nur bestehen können, wenn wir unsere Bildungspolitik radikal reformieren. Die Schulreform ist zwingend notwendig.

Abendblatt:

Also Augen zu und durch?

Özdemir:

Es ist wichtig, dass jetzt mit allen Beteiligten gesprochen wird. Aber der Kern der Schulreform, das gemeinsame Lernen, muss erhalten bleiben. Die sechsjährige Primarschule ist für uns nicht verhandelbar.

Abendblatt:

Wo könnte der Senat den Kritikern entgegenkommen?

Özdemir:

Als Vater würde ich das Recht der Eltern, für ihre Kinder die bestmögliche Schule auszusuchen, nicht bestreiten.

Abendblatt:

Kann Schwarz-Grün in der Hansestadt weiter regieren, wenn die Schulreform scheitert?

Özdemir:

Die Schulreform kommt auf jeden Fall. Schwarz-Grün hat jetzt Zeit, stärker für das Modell zu werben, das neben dem längeren gemeinsamen Lernen noch viele andere Aspekte umfasst. Ich würde mir auch wünschen, dass die Hamburger Wirtschaft öffentlich für die Reform eintritt. Außerdem muss die SPD sich fragen, wie lange sie noch Opposition um der Opposition willen machen möchte. Das gemeinsame Lernen war immer auch ein Projekt der SPD.

Abendblatt:

Herr Özdemir, wie kam es, dass Sie Anfang der Achtzigerjahre den Grünen beigetreten sind?

Özdemir:

Viele meiner Lehrer standen eher der Sozialdemokratie nahe. Den Grünen beizutreten war damals auch eine Form der Provokation. Außerdem standen sie für die Themen wie Umweltschutz, die mir wichtig waren.

Abendblatt:

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Özdemir:

Schockiert. Für meine Eltern waren die Grünen die Partei, in der Männer stricken, alle zusammen wilde Sexorgien feiern und Haschisch zu sich nehmen in undefinierbaren Mengen. Es hat eine Weile gedauert, bis meine Eltern verstanden haben, dass die Grünen eine legale Partei sind.

Abendblatt:

Sie sind gerade zum zweiten Mal Vater geworden. Was sagen Sie Ihren Kindern, wenn sie einmal Politik machen wollen für die Grünen?

Özdemir:

Überlegt euch das gut! Nein, im Ernst: Ich würde mich natürlich freuen. Ich hoffe, dass meine Kids alles auf den Kopf stellen.

Abendblatt:

Und wenn sie zur Linkspartei gehen?

Özdemir:

Die Linkspartei wird es nicht mehr so lange geben. Sie wird mit der SPD fusionieren.

Abendblatt:

Ihre Kinder in der FDP - wäre das ein Problem?

Özdemir:

Die FDP wird bis dahin über das Land so viel Schaden gebracht haben, dass sich niemand mehr offen zu ihr bekennen wird. Jeder wird sagen: FDP - das sind doch die mit den Schulden.

Abendblatt:

Gibt es Figuren aus der Anfangszeit, die den Grünen heute fehlen?

Özdemir:

Das ist schwer. Ich hätte mir gewünscht, dass Petra Kelly länger gelebt hätte.

Abendblatt:

Joschka Fischer?

Özdemir:

Er ist mit Sicherheit ein Verlust für die deutsche Politik. Er war ein außergewöhnliches Talent, einer der besten Redner und einer der markantesten Köpfe - ähnlich wie Franz Josef Strauß. Aber diese Epoche ist vorbei.

Abendblatt:

Kommt er am Sonntag zur Feier?

Özdemir:

Weiß ich nicht.