Wer wusste was zu welchem Zeitpunkt? In die emotionale Debatte platzt die Nachricht von einem neuen Angriff auf die Bundeswehr.
Berlin. Zwei Soldaten bei Kundus verletzt, der Verteidigungsminister unter Druck – und die Opposition im Bundestag wittert Morgenluft. Die Affäre um den Luftschlag am 4. September und ihre Aufklärung hält die deutsche Politik in Atem. Scheibchenweise dringen neue Informationen und neue Dementis an die Öffentlichkeit. Der Untersuchungsausschuss muss jetzt Gewissheit bringen – zumindest im Bundestag.
Derweil wurden bei Gefechten im nordafghanischen Unruhe-Distrikt Chahar Darrah zwei deutsche Soldaten verwundet. Aufständische feuerten mit Panzerfäusten und Gewehren auf eine Polizeistation, in der sich auch Bundeswehr-Soldaten aufhielten, wie ein Reuters-Fotograf berichtete. Eine Panzerfaustgranate schlug auf dem Gelände der Wache ein und verletzte einen Soldaten schwer. Die Bundeswehr erwiderte das Feuer.
Nach Angaben des Einsatzführungskommandos in Potsdam wurde der Schwerverwundete im Lazarett im deutschen Feldlager in Kundus operiert. Es bestehe keine Lebensgefahr. Ein weiterer Soldat sei leicht verletzt worden.
Schon vorher waren deutsche und afghanische Truppen nur wenige Kilometer von der Polizeiwache entfernt unter Beschuss geraten. Die Soldaten waren ausgerückt, um Minen zu räumen, als Aufständische mit Panzerfäusten und Gewehren auf sie feuerten. Das Gefecht dauerte etwa 45 Minuten. Die Soldaten forderten auch Luftunterstützung an. Ein Kampfflugzeug vom Typ F-15 überflog die Szene des Feuerkampfs, um die Aufständischen abzuschrecken. Der Pilot machte jedoch keinen Gebrauch von seinen Waffen.
Unterdessen wurde klar: Die Bundesregierung war vor der Bundestagswahl über zivile Opfer beim Luftangriff in Kundus und über Verstöße gegen Einsatzregeln informiert. Sie kannte auch das Ziel von Oberst Georg Klein, Taliban gezielt zu töten. Das ergab sich aus Antworten der Regierung im Bundestag zu den Vorgängen um das Bombardement in Afghanistan und den Kenntnisstand des damaligen schwarz-roten Kabinetts.
Bei dem Luftschlag, den der deutsche Oberst Georg Klein angeordnet hatte, waren bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt worden, darunter viele Zivilisten. Der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt (CSU), räumte in der emotional aufgeladenen Debatte zwar ein, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU bei ihrer Regierungserklärung am 8. September ein Bericht vom 5. September von Oberst Klein an den damaligen Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan nicht vorlag. Er teilte aber mit, das Kanzleramt habe diesen Bericht am 10. September bekommen.
Merkel hatte eine komplette Aufklärung versprochen. Aber was wussten sie, Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung, Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Karl-Theodor zu Guttenberg zu welchem Zeitpunkt genau? Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin wies darauf hin, dass Klein am 5. September mitgeteilt habe, dass er Taliban „vernichten“ wollte.
Schmidt bestätigte, dass das Verteidigungsministerium am 7. September einen Vorbericht der internationalen Afghanistan- Schutztruppe Isaf erhalten habe, in dem bereits auf militärisches Fehlverhalten und zivile Opfer hingewiesen worden sei. Über diesen vertraulichen Bericht wurden die Obleute der Bundestagsfraktionen am Morgen des 8. September unterrichtet. In diesem Bericht war nach Angaben des SPD-Abgeordneten Rainer Arnold „dezidiert von zivilen Opfern und Regelverstößen“ die Rede. Das war 19 Tage vor der Bundestagswahl am 27. September.
Trittin fragte, ob es eine Absprache zwischen dem Kanzleramt, dem damals von Franz Josef Jung (CDU) geführten Verteidigungsministerium und dem Bundesnachrichtendienst (BND) bezüglich einer veränderten Strategie gegeben habe, die auch die Möglichkeit des gezielten Tötens Verdächtiger einbezogen habe. Antwort Schmidt: „Nein.“ Auf Trittins Nachfrage, wie dann zu bewerten sei, dass Klein nach den vorliegenden Berichten bei dem Angriff gezielt die Menschen habe treffen wollen, verwies Schmidt auf die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft.
Ausdrücklich unabhängig von dem Luftangriff sagte er: „Ich will darauf hinweisen, dass nach dem humanitären Völkerrecht der Vorgang der Tötung von Gegnern nicht per se als rechtswidrig betrachtet wird.“
In dem am Mittwoch konstituierten Untersuchungsausschuss zu der Kundus-Affäre soll auch die Rolle von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier (SPD) untersucht werden. Er war im September noch Außenminister. (abendblatt.de/rtr/dpa)