In München startet das spektakuläre Verfahren gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk. Sagt er die Wahrheit über Sobibor?
München. Ein vergilbtes Stück Papier mit einem Schwarz-Weiß-Foto. Der junge Mann auf dem Bild ist 1,75 Meter groß, dunkelblond, er hat graue Augen und ist Ukrainer. Iwan Demjanjuk, geboren am 3. April 1920 in Duboimachariwzi. Das Papier ist ein Dienstausweis der SS. Er gibt Auskunft über den Arbeitsplatz - Sobibor - und darüber, wann der Ausweisinhaber dorthin abkommandiert wurde: am 27. März 1943.
Das Papier ist das zentrale Beweisstück im letzten großen NS-Kriegsverbrecherprozess. Sechs Monate lang soll der Wachmann Iwan Demjanjuk in Sobibor Deportierte vom Bahnhof in die Gaskammern getrieben haben. Außerdem belastet ihn noch eine Personalliste, auf der sich sein Name findet und die Aussage des inzwischen verstorbenen Wachmanns Ignat Daniltschenko, der Kollege habe die Menschen regelrecht in den Tod gestoßen, wenn es ihm bei den Gaskammern nicht schnell genug vorangegangen sei. Er sei "effizient" gewesen.
Heute will Demjanjuk vor allem gebrechlich wirken. Bevor ihn die Vereinigten Staaten im Mai nach monatelangem Tauziehen zwischen seinen Anwälten und der Münchner Staatsanwaltschaft endlich nach Deutschland auslieferten, legte sich der 89-Jährige zu Hause in Cleveland einen Rollstuhl zu. Er ließ verbreiten, er habe Leukämie und sei schwer nierenkrank. Dem widersprach allerdings ein Video, das zeigte, wie der alte Mann vollkommen problemlos in sein Auto einstieg und flott davonfuhr. Trotzdem hat Demjanjuks Sohn behauptet, sein Vater werde den Flug nach München nicht überleben, und die deutsche Justiz nehme das billigend in Kauf, weil es sich ja nur um einen "alten Nazi" handele ...
Demjanjuk lebt. Er hat in der Tat Nierenprobleme und eine Vorstufe der Altersleukämie, auch plagt ihn von Zeit zu Zeit die Gicht, aber er ist verhandlungsfähig. Das haben unabhängige medizinische Gutachter festgestellt. Allerdings haben sie empfohlen, die Verhandlungsdauer auf drei Stunden pro Verhandlungstag zu begrenzen, und das Münchner Schwurgericht wird sich daran halten.
Von heute an muss sich der mutmaßliche Kriegsverbrecher Iwan Demjanjuk, der sich seit 1952 John Demjanjuk nennt, vor der 1. Strafkammer des Landgerichts München II verantworten. Nach dem Frühstück wird man ihn zum Gericht an der Nymphenburger Straße bringen, und vor dem Sitzungssaal 101 werden sich tumultartige Szenen abspielen. Denn für die 270 internationalen Journalisten, die sich für den Prozess akkreditiert haben, stehen nur 68 Plätze zur Verfügung. Die geplante Live-Übertragung in einen Saal mit weiteren 80 Plätzen hat die Strafkammer am Sonnabendnachmittag überraschend abgesagt.
Heute wird die Anklage verlesen. Die Staatsanwaltschaft sieht es als erwiesen an, dass John Demjanjuk von März bis September 1943 als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor in mindestens 27 900 Fällen Beihilfe zum Mord geleistet hat. Sie stützt sich auf die oben genannten Indizien, denn Zeugen, die Demjanjuk als Täter identifizieren könnten, gibt es nicht. Nicht mehr. Thomas Blatt, der als 15-Jähriger nach Sobibor kam, kann sich an Demjanjuks Gesicht nicht erinnern. Da seien zu viele Ukrainer gewesen, die für die Deutschen die Drecksarbeit gemacht hätten, sagt der 82-Jährige rückblickend.
Blatt hat in Sobibor seine Eltern und seinen kleinen Bruder verloren. Er hat überlebt, weil die SS-Mannschaft sogenannte Arbeitsjuden brauchte, die hinter den Toten aufräumten. Ihren Besitz sortierten, Dokumente und Fotos verbrannten. Er hat vor allem überlebt, weil er sich im Oktober 1943 dem Lageraufstand anschloss und zu den 47 Gefangenen gehörte, denen die Flucht gelang. Blatt, der heute in Kalifornien lebt, wird dem Gericht als Zeuge von den Zuständen und Ereignissen im Todeslager berichten. "Sobibor" sagt er, "war eine Fabrik." Dass Demjanjuk jetzt vor Gericht kommt, ist für Thomas Blatt ein Zeichen "sehr später Gerechtigkeit".
Tatsächlich ist der Prozess ein Novum. Erstmals in der bundesdeutschen Justizgeschichte muss sich ein nicht deutscher Wachmann eines NS-Vernichtungslagers wegen mutmaßlicher Beteiligung am Holocaust verantworten. Kein anderer der etwa 5000 "Trawniki", die so genannt wurden, weil sie im ostpolnischen Dorf Trawniki ein SS-Ausbildungslager durchlaufen hatten, ist bislang von der deutschen Justiz belangt worden. In der Ukraine ist man entsprechend empört - am Dienstag zogen aufgebrachte Demonstranten vor der deutschen Botschaft in Lemberg auf und skandierten: "Freiheit für Demjanjuk!" -, in Cleveland ist man von Demjanjuks Unschuld überzeugt. Die ukrainische Community, zu der Demjanjuk gehört, seit er im August 1952 seine Arbeit im Ford-Werk aufnahm, hat für den immer hilfsbereiten Nachbarn, Freund und Arbeitskollegen im Laufe der Jahre Hunderttausende von Dollar gesammelt.
Die Landsmänner waren auch loyal, als 1976 der Verdacht aufkam, der gute John sei "Iwan der Schreckliche" gewesen - das Monster von Treblinka. Sie haben zu ihm gehalten, als ihm 1981 die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, und fünf Jahre später, als ihn die USA an Israel auslieferten. Als Demjanjuk 1987 in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde, schickten die ukrainisch-amerikanischen Freunde Pakete. Als das Urteil sechs Jahre später aufgehoben wurde - er konnte nicht "Iwan der Schreckliche" gewesen sein, amerikanische Ermittler hatten nachweislich die Beweise manipuliert -, nahmen sie ihn mit offenen Armen wieder auf. Als Demjanjuk seine Staatsbürgerschaft zurückerhielt, feierten sie das in seinem Viertel als Triumph.
Trotzdem ermittelten die amerikanischen Behörden weiter. Und als sie glaubten herausgefunden zu haben, dass Demjanjuk zu den Trawnikis in Sobibor, Majdanek und im bayerischen Flossenbürg gehört hatte, boten sie ihn den beteiligten Staaten zur Auslieferung an. Die Ukraine und Polen winkten ab, in Deutschland ermittelte bereits die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Die übergab wenig später ein mehrere Hundert Seiten umfassendes Dossier an das zuständige Gericht in München, und die dortigen Richter erließen einen Haftbefehl gegen den gebürtigen Ukrainer. Deshalb steht er nun in Deutschland vor Gericht.
Iwan Demjanjuk ist als einfacher Bauernsohn zur Welt gekommen. Er war 21 Jahre alt, als ihn die Rote Armee zum Krieg gegen Hitler einzog. Er war 22, als er in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. John Demjanjuk hält daran fest, dass er von 1942 bis 1944 deutscher Kriegsgefangener im polnischen Chelm gewesen ist. Chelm liegt nicht weit von Trawniki. In Chelm war die Wahrscheinlichkeit groß, an Hunger zu sterben. In Trawniki suchte die SS Helfer für ihr blutiges Geschäft. Laut Staatsanwaltschaft stehen Echtheit und Aussagekraft des Dienstausweises - der übrigens auch schon im Jerusalemer Demjanjuk-Prozess eine Rolle gespielt hat, auch wenn man den Hinweis auf "Sobibor" da entschlossen übersah - außer Zweifel.
Schätzungsweise 250 000 Menschen sind in Sobibor ermordet worden. Weil sich aus Demjanjuks Dienstzeit nur die Transportlisten aus Westerbork erhalten haben - die Listen aus den anderen Durchgangslagern wurden von den Nazis vernichtet -, wird Demjanjuk "nur" Beihilfe in 27 900 Fällen vorgeworfen. Die Zahl verdankt sich allerdings juristischer Arithmetik: In die 15 Züge, die das niederländische Westerbork zwischen April und Juli 1942 Richtung Sobibor verließen, wurden 29 579 Menschen gepfercht; weil nicht alle die Strapazen der Transporte überstanden haben können, gehen die Ermittler davon aus, dass 27 900 Sobibor lebend erreichten.
John Demjanjuk hat seine Schuld immer bestritten. John junior sagt bitter, sein Vater habe schon genug durchgemacht. "Und die Deutschen fangen wieder von vorne an!" Thomas Blatt sagt: "Eine Haftstrafe ist nicht entscheidend. Es geht auch nicht um Rache. Er soll nur die Wahrheit über Sobibor sagen."
Blatt gehört zu den 35 Nebenklägern, die in München beteiligt sind. Weitere könnte der Vorsitzende Richter Ralph Alt während des laufenden Verfahrens zulassen. 19 der Nebenkläger - darunter auch Thomas Blatt - sind als Zeugen geladen, andere verfolgen den Prozess aus der Ferne: in den Niederlanden, in den USA, der Schweiz oder Israel. Alle Nebenkläger haben in Sobibor Eltern und/oder Geschwister verloren, manche ihre ganze Familie.
Mord verjährt nach deutschem Recht nicht. Auf Beihilfe zum Mord steht eine Strafe von drei bis 15 Jahren. Pro Fall. Bis Anfang Mai sind 35 Verhandlungstage angesetzt, je "nach Bedarf" können es aber noch mehr werden. Andererseits ist es aber auch gut möglich, dass es zu keinem Urteil mehr kommt, weil der Angeklagte vorher für verhandlungsunfähig erklärt wird. Oder dass er verurteilt und dann sofort für haftunfähig erklärt wird. In jedem Fall wird er wohl in Deutschland bleiben. Weil die USA ihm die Staatsbürgerschaft vor seiner Auslieferung ein zweites Mal entzogen haben, ist eine Rückkehr in die Vereinigten Staaten unmöglich.
In Stadelheim ist man mit John Demjanjuk unterdessen sehr zufrieden. Der Gefangene bereite keine Schwierigkeiten, sagt Anstaltsleiter Michael Stumpf. Er spiele Karten, lese täglich eine ukrainische Zeitung, sei "geistig frisch" und befinde sich in scheinbar unbeobachteten Momenten "in gutem Zustand".