Die designierte SPD-Vizevorsitzende Hannelore Kraft über die Erneuerung ihrer Partei, Rot-Rot und einen schwarz-gelben Eissturm.

Hamburg/Düsseldorf. Hamburger Abendblatt

Frau Kraft, Sie nehmen in der SPD-Spitze den Platz von Peer Steinbrück ein. Was werden Sie anders machen als Ihr populärer Vorgänger?

Hannelore Kraft:

Nach der schweren Niederlage bei der Bundestagswahl geht es darum, die SPD zu erneuern. Dieser Prozess muss maßgeblich aus den Ländern beeinflusst werden. Es ist unsere historische Aufgabe, eine Perspektive für eine soziale und gerechte Gesellschaft unter realen Bedingungen zu entwickeln.

Abendblatt:

Wo liegt das neue Kraftzentrum der Sozialdemokraten - in der Fraktion bei Frank-Walter Steinmeier oder in der Partei bei Sigmar Gabriel und Andrea Nahles?

Kraft:

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir zwei Kraftzentren brauchen.

Abendblatt:

In Nordrhein-Westfalen sind Sie Partei- und Fraktionsvorsitzende. Was spricht für eine Trennung der Aufgaben?

Kraft:

Das war ich nicht von Anfang an, das hat sich erst später ergeben. Beides zu machen ist sehr anstrengend. Im Bund sind wir gut beraten, uns an verschiedenen Stellen stark aufzustellen.

Abendblatt:

Gabriel und Nahles sind immer Rivalen gewesen. Wie soll ein Albtraum-Paar die SPD führen?

Kraft:

Andrea Nahles und Sigmar Gabriel sind Profis genug. Sie wissen, was die Zeit geschlagen hat. Wir kommen nur mit Geschlossenheit wieder nach oben.

Abendblatt:

Kann Steinmeier 2013 noch einmal Kanzlerkandidat werden?

Kraft:

Die Frage der Kanzlerkandidatur ist doch jetzt in dieser Situation wirklich nicht zu stellen.

Abendblatt:

War es richtig, dass der gescheiterte Kanzlerkandidat noch am Wahlabend nach dem Fraktionsvorsitz gegriffen hat?

Kraft:

Frank-Walter Steinmeier hat einen wirklich guten Wahlkampf gemacht. Es ist richtig, dass er in führender Position weitermacht. Er hat sich für den Fraktionsvorsitz entschieden, die Fraktion hat ihn mit großer Mehrheit gewählt.

Abendblatt:

Steinmeier sagt: Die Regierungsbilanz der SPD ist gut. Hat er recht?

Kraft:

Ich gehöre nicht zu denen, die elf Jahre Regierungsarbeit jetzt mal eben in die Tonne werfen. Ich unterstelle allen, die entschieden haben, dass sie Gerechtigkeit herstellen wollten. Aber man muss auch sagen: Es gab Gesetzesvorhaben, die sich in der Wirkung anders entfaltet haben. Das hat zum Teil zu einem massiven Vertrauensverlust der SPD geführt, der aber schon vor den vergangenen vier Regierungsjahren eingesetzt hat.

Abendblatt:

Was bedeutet das für die Reformagenda 2010 von Schröder und Steinmeier?

Kraft:

Überschriftendiskussionen führen nicht weiter. Bei der Agenda war vieles sinnvoll, zum Beispiel die vier Milliarden Euro des Bundes zum Ausbau der Ganztagsschulen oder die BAföG-Reform. Anderes muss korrigiert werden, etwa die Regelungen zur Leih- und Zeitarbeit. Das Instrument, das wir geschaffen haben, wird von einigen Unternehmen missbraucht zum Lohndumping.

Abendblatt:

Die Linkspartei will an diesem Wochenende ein Programm mit drei Kernforderungen verabschieden: Hartz IV abschaffen, Rente mit 67 zurücknehmen, Bundeswehr aus Afghanistan abziehen. Sehen Sie Schnittmengen mit der SPD?

Kraft:

Ich führe keine Debatten auf Überschriftenebene. Von mir hören Sie keine Wünsch-dir-was-Rhetorik, tut mir leid.

Abendblatt:

Bei der Rente mit 67 ist die neue SPD-Führung teilweise schon auf die Linie der Linkspartei eingeschwenkt ...

Kraft:

Die Linkspartei ist die Antwort schuldig geblieben, wie eine Rückkehr zur Rente mit 65 finanziert werden soll. Die Linke weigert sich, die Realität in ihre Antworten einzubauen. Davon muss sich die SPD auch in Zukunft unterscheiden.

Abendblatt:

Wie?

Kraft:

Bei der Rente mit 67 müssen wir flexible Übergänge schaffen für die, die nicht bis 67 arbeiten können, etwa die Pflegerin oder der Dachdecker. Und bei Hartz IV sind wir für eine Anhebung des Schonvermögens. Beides stand schon im Wahlprogramm. Weiteres wird in den nächsten Monaten zu bereden sein.

Abendblatt:

Oskar Lafontaine zieht sich ins Saarland zurück. Erleichtert das die Annäherung zwischen SPD und Linkspartei im Bund?

Kraft:

Ich habe die Ankündigung anders wahrgenommen. Lafontaine zieht sich ja nur aus der Spitze der Bundestagsfraktion zurück. Parteivorsitzender bleibt er. Die Frage, ob man eine Koalition bilden kann, auch eine rot-rote, hängt immer von zwei Dingen ab: inhaltliche Übereinstimmung und vertrauensvolle Zusammenarbeit der handelnden Personen. Von Ausschließeritis halte ich jedenfalls nichts.

Abendblatt:

Die SED-Vergangenheit der Linkspartei wäre für Sie kein Hindernis?

Kraft:

Wir sind jetzt 20 Jahre nach dem Mauerfall. Ich glaube, dass man realistisch mit dem Thema umgehen muss. Es wäre hilfreich, wenn die Linkspartei ehrlich mit ihrer Vergangenheit umgehen würde. Eine Aufarbeitung ist bisher nicht erfolgt.

Abendblatt:

Die Linke in Nordrhein-Westfalen will Energiekonzerne verstaatlichen, Cannabis legalisieren und den Religionsunterricht abschaffen. Sehen Sie da eine Basis für Rot-Rot-Grün?

Kraft:

Mit einer Linkspartei, die solche Forderungen erhebt wie in Nordrhein-Westfalen, wird eine Zusammenarbeit nicht möglich sein. Auch von den Personen her ist die Partei in NRW weder koalitions- noch regierungsfähig.

Abendblatt:

Wie wollen Sie dann Jürgen Rüttgers bei der Landtagswahl im Mai als Ministerpräsident ablösen?

Kraft:

Wir wollen stärkste Fraktion werden. Und dann schauen wir, mit wem wir unsere Inhalte am besten durchsetzen können.

Abendblatt:

Ihre Chancen in Nordrhein-Westfalen steigen, wenn Merkel und Westerwelle eine Bundesregierung der Zumutungen schmieden. Danach sieht es aber nicht aus ...

Kraft:

Union und FDP bereiten eine Wählertäuschung vor, das ist ja völlig klar. Sie werden ein weich gewaschenes Papier als Koalitionsvertrag vorstellen. Das wahre Programm, das die großen Einschnitte bringt, bleibt in der Schublade bis zum 9. Mai. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen werden dann die Grausamkeiten verkündet. Da darf sich niemand etwas vormachen: Das ist auf Wählertäuschung angelegt.

Abendblatt:

Können Sie das belegen?

Kraft:

Das ist doch ganz logisch. Die Finanzlage ist dramatisch. Und jetzt wollen Union und FDP auch noch ein höheres Kindergeld und einen höheren Kinderfreibetrag auf den Weg bringen und sehen Spielräume für Steuersenkungen. Das ist abenteuerlich. Anders als mit drastischen Einschnitten im sozialen Bereich wird sich die Null-Schulden-Grenze im Grundgesetz gar nicht einhalten lassen.

Abendblatt:

Welche Grausamkeiten erwarten Sie denn?

Kraft:

Sie werden es erleben: Nach dem 9. Mai bricht der Eissturm los.