Deutschlands höchster Richter warnt die Politik eindringlich davor, immer neue Schulden zu machen. Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise könnte sich das rächen.

Hamburg/Karlsruhe. Hamburger Abendblatt:

Herr Präsident, wieder hat das Bundesverfassungsgericht eine zentrale Entscheidung der Politik verworfen. Die Große Koalition muss die Kürzung der Pendlerpauschale zurücknehmen. Wird Deutschland mehr und mehr von Karlsruhe aus regiert?

Hans-Jürgen Papier:

Das wäre eine große Übertreibung. Richtig ist, dass fast jedes bedeutende Gesetzeswerk früher oder später auf den Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts gelangt. Aber selbst wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, bleibt dem Gesetzgeber in der Regel doch ein großer Gestaltungsspielraum bei der Behebung des verfassungsrechtlichen Mangels.



Abendblatt:

Wie erklären Sie sich die immer längere Reihe verfassungswidriger Gesetze? Mangelt es den Regierenden an Sachkenntnis?

Papier:

Es steht mir nicht zu, anderen Verfassungsorganen hier Noten zu erteilen. Man muss fairerweise auch die Rahmenbedingungen heutiger Gesetzgebung berücksichtigen. Viele Gesetze der letzten Jahre sind das Ergebnis von Kompromissen. Manchmal musste der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat in wenigen Stunden ein Gesetzespaket schnüren. Man darf auch nicht vergessen, dass die allerwenigsten Verfassungsbeschwerden tatsächlich erfolgreich sind. Die gesetzgebenden Organe liegen selten völlig daneben ...



Abendblatt:

... bei der Kürzung der Pendlerpauschale aber schon, wenn man der Urteilsbegründung folgt. Haben Sie manchmal den Eindruck, die Politik hat ein Beschäftigungsprogramm für Verfassungsrichter aufgelegt?

Papier:

Das Grundgesetz hat dem Bundesverfassungsgericht die Rolle zugedacht, auch Gesetze am Maßstab der Verfassung zu überprüfen. Ich will nicht sagen, dass wir uns um Verfahren dieser Art reißen. Aber wenn wir angerufen werden, entscheiden wir auch.



Abendblatt:

Professor Papier, die Bundesregierung stellt sich auf die schlimmste Wirtschaftskrise seit Gründung der Bundesrepublik ein. Sie haben wiederholt vor einer Überforderung des Staates gewarnt. Ist er einer Herausforderung dieser Dimension gewachsen?

Papier:

Kernaufgabe des Staates ist auch die Wahrung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Lebensgrundlagen der Menschen. Wenn diese Lebensgrundlagen existenziell gefährdet sind, hat der Staat den Auftrag, aktiv zu werden. Voraussetzung für den Erfolg ist allerdings, dass der Staat sich allgemein nicht übernimmt. Ich sehe die fortwährende Expansion der staatlichen Aufgaben und Ausgaben mit Sorge. Wenn die Schuldenlast immer größer wird, geht insbesondere in Krisenzeiten die Lenkungs- und Gestaltungsfähigkeit des Staates verloren.



Abendblatt:

Die Regierung schnürt milliardenschwere Konjunkturpakete. Das Ziel, 2011 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, hat sie bereits aufgegeben ...

Papier:

Ich will einzelne politische Entscheidungen nicht beurteilen, daher antworte ich Ihnen allgemein. Die Begrenzung der Staatsverschuldung ist vom Bundesverfassungsgericht als ganz zentrale Aufgabenstellung bewertet worden. Daran möchte ich gerade in der Krise erinnern. Das Ziel der Haushaltskonsolidierung sollte nicht aus den Augen verloren werden. Wenn sich der Staat über alle Maßen verschuldet, kann er die Lebensgrundlagen der Menschen auf Dauer nicht mehr sichern.



Abendblatt:

Sollte dem Staat verboten werden, sich weiter zu verschulden?

Papier:

Die gegenwärtigen Verschuldungsgrenzen haben sich nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts als unzureichend erwiesen. Deshalb ist es richtig, dass sich die Föderalismuskommission von Bund und Ländern die Schaffung einer rigideren Schuldenbremse zum Ziel gesetzt hat. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass dieses Ziel trotz widriger Umstände auf der Tagesordnung bleibt. Darüber hinaus muss der vorhandene Schuldensockel mittel- und langfristig abgebaut werden. Beides ist für den Erhalt und die Gestaltungsfähigkeit des demokratischen und sozialen Rechtsstaats von elementarer Bedeutung.



Abendblatt:

Welche Art der Schuldenbremse stellen Sie sich vor?

Papier:

Ich will mich da nicht festlegen. Verschiedene Modelle werden diskutiert, etwa die Verankerung eines absoluten Schuldenverbots im Grundgesetz, das nur in wirklichen Notzeiten durchbrochen werden darf, gegebenenfalls mit qualifizierter Parlamentsmehrheit. Es gibt aber noch weitere Modelle.



Abendblatt:

Herr Präsident, die Regierungskoalition ist dabei, die Sicherheitsgesetze weiter zu verschärfen. Online-Durchsuchungen von Computern sollen dem Bundeskriminalamt helfen, Anschlagsplanungen aufzudecken. Ist es rechtens, dass der Staat so tief im Privatleben der Bürger herumschnüffelt?

Papier:

Die Frage scheint mir in dieser Allgemeinheit für einen Verfassungsrechtler nicht beantwortbar zu sein.



Abendblatt:

Sie können auch konkret antworten.

Papier:

Der Gesetzgeber ist aufgefordert, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden. Unter welchen Voraussetzungen Online-Durchsuchungen zulässig sein können, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur nordrhein-westfälischen Regelung dargelegt.



Abendblatt:

Erfüllt das neue Bundeskriminalamtsgesetz von Innenminister Schäuble diese Voraussetzungen?

Papier:

Das kann und will ich nicht beantworten ...



Abendblatt:

... weil Sie demnächst über Verfassungsklagen gegen das BKA-Gesetz entscheiden müssen?

Papier:

Das ist nicht auszuschließen.



Abendblatt:

Sie haben wiederholt davor gewarnt, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus fundamentale Freiheitsrechte zu opfern. Ist Ihre Sorge in diesem Jahr geringer geworden?

Papier:

Das Bundesverfassungsgericht hat in letzter Zeit wichtige sicherheitspolitische Regelungen für verfassungswidrig erklärt. Insbesondere haben wir aus dem Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit den grundrechtlichen Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme abgeleitet. Das Grundgesetz garantiert auch in diesem Zusammenhang einen Kernbereich privater Lebensgestaltung.



Abendblatt:

Sicherheitsexperten beklagen, das Bundesverfassungsgericht verhindere einen effektiveren Schutz vor Terroranschlägen.

Papier:

Ich glaube nicht, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Gesetzgeber das notwendige Instrumentarium zur wirksamen Terrorbekämpfung genommen hat. Bei schwerwiegenden Gefährdungen darf der Staat natürlich handeln und Grundrechte beschränken. Allerdings ist es der gesetzliche Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, zu prüfen, ob Sicherheitsgesetze etwa die Menschenwürde verletzen. Wir haben auch zu prüfen, ob Eingriffe des Gesetzgebers in die Freiheitssphäre des Bürgers verhältnismäßig sind. Man darf nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Man darf auch nicht ins Blaue hinein ermitteln und dabei in Grundrechte vieler Unbeteiligter eingreifen.



Abendblatt:

Wenn es zu einem Anschlag in Deutschland kommt, wird man sagen: Wir haben zu lange über Verhältnismäßigkeit diskutiert.

Papier:

Es mag sein, dass es dann solche Debatten gibt. Aber auch deswegen ist eine unabhängige Instanz wie das Bundesverfassungsgericht eingerichtet worden, die ungeachtet tagesaktueller Stimmungen nach Gesetz und Recht entscheidet.



Abendblatt:

Im Zusammenhang mit der Bundesratsabstimmung zum BKA-Gesetz hat Innenminister Schäuble eine Änderung der Abstimmungsregeln in der Länderkammer gefordert. Sehen Sie dafür eine Notwendigkeit?

Papier:

Der Vorschlag, der jetzt diskutiert wird, sieht ein Abstimmungssplitting vor. Bei Zustimmungsgesetzen soll von einer absoluten auf eine relative Mehrheit, also von der Mehrheit aller gesetzlichen Stimmen auf die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, übergegangen werden. Bei dem überwiegenden Teil von Gesetzen, gegen die der Bundesrat nur einen - vom Bundestag überstimmbaren - Einspruch einlegen kann, soll es demgegenüber bei der absoluten Mehrheit für einen Einspruch bleiben. Gleiches soll für die Anrufung des Vermittlungsausschusses gelten. Das ist eine Ambivalenz, auf die ich hinweisen möchte.


Bei Änderungen der Abstimmungsregeln des Bundesrats sollte man das Gesamtsystem im Auge behalten.


Abendblatt:

Das Bundesverfassungsgericht hat vor 25 Jahren ein "Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung" - ein Grundrecht auf Datenschutz - geschaffen. Wie ist es heute um den Datenschutz in Deutschland bestellt?

Papier:

Das Grundrecht auf Datenschutz ist gefährdet. Das liegt gar nicht primär am Staat, sondern an Dritten. Der Handel mit privaten Daten hat eine besorgniserregende Dimension erreicht. Wir sind dabei, uns zu einer privaten Überwachungsgesellschaft internationalen Ausmaßes zu entwickeln, zum Teil sogar freiwillig.



Abendblatt:

Freiwillig?

Papier:

Viele Menschen geben im Internet und anderswo viel zu leichtfertig persönliche Daten preis. In der Bevölkerung muss dem Schutz der Freiheit, der Privatsphäre und der Persönlichkeit wieder stärkeres Gewicht beigemessen werden.



Abendblatt:

Wie kann das gelingen?

Papier:

Natürlich ist der Gesetzgeber gehalten, effektive Datenschutzregeln auch für den Privatrechtsverkehr zu treffen. Darüber hinaus muss sich aber auch jeder Einzelne vor Selbstgefährdungen schützen. Zur Freiheit gehört auch Selbstverantwortung. Man kann nicht alles auf den Staat abschieben. Dem Datenschutz, gerade auch zwischen Privaten, sollte sowohl vom Staat als auch von jedem Einzelnen größeres Gewicht beigemessen werden.