Während man im Osten energisch die Ärmel aufkrempelt, geht im Westen die Angst um. Angst um den Arbeitsplatz, Angst um die Zukunft der Kinder, Angst vor Hartz IV und dem gesellschaftlichen Abstieg.
Berlin. Taktvoll war es nicht, aber Spaß wird es ihm gemacht haben: Der deutsche Finanzminister hat dem amerikanischen Nachrichtenmagazin "Newsweek" ein Interview gegeben und darin die Konjunkturpolitik des britischen Premiers Gordon Brown zerpflückt. "Dieselben Leute, die sich immer gegen Finanzierung durch Staatsverschuldung gewehrt haben, werfen nun mit Milliarden um sich", hat Peer Steinbrück da gesagt und dann boshaft gefragt, ob Brown tatsächlich glaube, dass die Leute jetzt einen DVD-Spieler kaufen würden, "weil er nun 39,10 statt 39,90 Pfund kostet?". Einmal in Schwung gekommen, konnte sich Steinbrück auch nicht verkneifen zu sagen, dass er den britischen Schwenk "zu ausgeprägtem Keynesianismus" nach Jahrzehnten angebotsorientierter Politik "atemberaubend" finde.
Natürlich ist man in London empört. "In Regierungskreisen" sei von einem "ungewöhnlichen Verstoß gegen die Regeln der Diplomatie" die Rede, vermeldete die BBC. Andererseits war man in Deutschland auch ein wenig ungehalten darüber gewesen, dass Brown Anfang der Woche nur Nicolas Sarkozy zu seinem Dreiergipfel mit EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso eingeladen hatte. Den Franzosen, der die unterschiedlichen Versuche der Krisenbewältigung mit den sarkastischen Worten kommentiert hatte: "Frankreich arbeitet daran, in Deutschland denkt man nach."
Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Mit diesem Bonmot könnte man die Lage in der Europäischen Union beschreiben, wenn sie nicht so ernst wäre. Egal, ob in Stockholm oder Athen, in Brüssel oder Prag, in Lissabon, Warschau, Wien oder Budapest: Jeder kocht sein eigenes Krisenbewältigungssüppchen. Madrid will die Konjunktur ankurbeln, indem es jedem Steuerzahler bis zu 400 Euro zurückerstattet, Rom gewährt Familien mit niedrigem Einkommen und Rentnern einmalig 150 Euro und monatlich weitere 40 Euro, Berlin befreit die Käufer eines Neuwagens zwei Jahre lang von der Kfz-Steuer.
Zum Zorn ihrer meisten europäischen Kollegen verweigert sich die deutsche Bundeskanzlerin einer allgemeinen Steuersenkung. Beim G8-Gipfel noch als mächtigste Frau der Welt gefeiert, muss sich Angela Merkel nun scharfe Kritik gefallen lassen. "Miss World ist verschwunden", titelte das britische Wirtschaftsmagazin "Economist" Anfang Dezember. Noch gibt sich die Kanzlerin gelassen. Deutschland sei sich seiner Verantwortung als größte Wirtschaftsmacht Europas durchaus bewusst, hat Angela Merkel gestern am Rande des Brüsseler EU-Gipfels erklärt, und es werde nun "laufend schauen", was es "eventuell" noch zu tun habe.
Wer sich die Wachstumsprognose der Europäischen Kommission für 2009 und 2010 anschaut, der wird zweifellos Handlungsbedarf erkennen - und neidvoll begreifen, dass Europa geteilt ist: Im Osten wird es - wenn auch substanziell niedriger als in den vergangenen Jahren - noch ein positives Wirtschaftswachstum geben. Dank niedriger Löhne, gut ausgebildeter Facharbeiter und Techniker und vergleichsweise unkomplizierter Genehmigungsverfahren. Und natürlich auch dank der umfangreichen Investitionsprogramme und EU-Hilfen. In den meisten westlichen EU-Staaten wird man nach Auskunft der Auguren hingegen schon froh sein müssen, wenn das Bruttoinlandsprodukt nicht ins Minus rutscht.
Während man im Osten energisch die Ärmel aufkrempelt, geht im Westen die Angst um. Angst um den Arbeitsplatz, Angst um die Zukunft der Kinder, Angst vor Hartz IV und dem gesellschaftlichen Abstieg, Angst davor, ein Pflegefall zu werden. Es ist die Angst derer, die viel besitzen und deshalb auch eine Menge zu verlieren haben, während man in den östlichen EU-Staaten noch immer gewinnen kann. Weil der Nachholbedarf riesig ist.
Für das Wochenende hat die Bundeskanzlerin zu einem nationalen Krisengipfel ins Kanzleramt eingeladen. Auf der Liste stehen Minister, Banker, Wirtschaftsbosse und Arbeitsmarktexperten. Ziel des Treffens sei es, "ein gemeinsames Verständnis von Tiefe und Dauer der Krise" zu erreichen, heißt es. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann ist übrigens auch eingeladen, obwohl dem Schweizer ja zuletzt zumindest das Verständnis für das von der Bundesregierung geschnürte Bankenrettungspaket gefehlt hat. Egal. Angela Merkel ist offenbar nicht nachtragend. Und der Bundesfinanzminister, der in diesen Tagen unterhaltsame Reden voller Galgenhumor hält, wird an sich abtropfen lassen, was der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman gestern in der "New York Times" geschrieben hat: "Deutschland verhindert eine wirksame europäische Antwort auf den dramatischen Abschwung. Das trägt deutlich zur Schärfe des globalen Abschwungs bei."
Solche Vorwürfe machen Peer Steinbrück, wie man seit geraumer Zeit weiß, keinen großen Eindruck mehr. Sein Ziel ist es, "die Spielregeln", die bislang die Angloamerikaner vorgegeben haben, zu ändern: Schluss mit der Deregulierungswut, die die Welt in die Krise gestürzt hat!